© Foto by Museum der Kulturen
"Sammeln und erzählen": Deckenscheiben zum Schutz der Gemeinschafthäuser
Geschichten von ethnologischen Objekten, die um die Welt wandern
Das Museum der Kulturen in Basel widmet Amazonien eine Ausstellung
Von Aurel Schmidt
Genau genommen, sind nicht die ethnologischen Objekte aus Amazonien gemeint, vielmehr stellt das Museum der Kulturen in einer als "Reflexionsplattform" verstandenen Ausstellung mit dem auffordernden Titel "Und jetzt?" eine Überlegung über die Bedeutung und Aufgabe seiner Sammlungen an.
Wie die Welt ständig einer Veränderung unterworfen ist, so wandeln sich auch die sichtbaren Erscheinungen der Landschaft und die geografischen Bedingungen. Das Land wird umgestaltet. Das ist nichts Neues, aber manchmal fällt es mehr auf als sonst.
Im Amazonasbecken hat in der Vergangenheit der Kautschuk-Boom schlimme Verwüstungen angerichtet. Heute ist es der Kahlschlag der Tropenwälder. In den vergangenen zehn Jahren ist in Brasilien ein Gebiet gerodet worden, das ungefähr viermal so gross ist wie die Schweiz. An seine Stelle sind Implantationen der Agro-Industrie für die Fleischproduktion sowie die Erzeugung von Bio-Treibstoff getreten. Gleicherweise bedroht heute der Belo-Monte-Staudamm, der drittgrösste der Welt, die Lebensgrundlage von 22'000 Menschen, denen das Schicksal der Umsiedlung bevorsteht. 246 weitere Projekte sind im Studium oder schon im Bau.
Alle diese Eingriffe haben nicht nur das Land und die natürlichen Kreisläufe massiv verändert, sondern weit mehr noch die Lebensformen und -umstände der Menschen. Die meisten der Betroffenen sind Indigene. Mit diesem Ausdruck werden die Menschen bezeichnet, die mit ihren Ahnen, Clans und Filiationen länger an einem Ort gelebt haben als andere Menschen, die erst später dazugekommen sind.
Das Museum vor neuen Fragen
Neben Südostasien und Ozeanien gehört Amazonien als neuerer Schwerpunkt zum Tätigkeitsbereich des Museums der Kulturen in Basel. Und im gleichen Mass, wie Amazonien permanent umgepflügt wird, nicht als natürlicher Prozess, sondern von Menschen erzeugt, so verändert sich auch die Arbeit der Ethnologen, die nach allgemeiner Auffassung im Sammeln, Bewahren und Interpretieren der materiellen Zeugnisse anderer Kulturen besteht.
Ging es in der Vergangenheit noch darum, die letzten, verschwindenden kulturellen Manifestationen der in die Dynamik des angeblichen Fortschritts gerissenen fremden Völker zu retten, so hat sich das Bild stark gewandelt. Alte Kulturgüter sind kaum noch anzutreffen, aber neue Gegenstände werden jeden Tag hergestellt, für den Eigengebrauch, aber auf einer heruntergestuften Ebene auch als sogenanntes Kunsthandwerk, das als Departmentstore- oder Aiport-Art in den Handel gelangt. Die Magazine zum Globus bieten zur Zeit in ihrem Sortiment solche nachgeahmten, neu fabrizierten Objekte aus Indonesien für den Wohnschmuck an.
Das ist hier natürlich nicht gemeint. Die Indigenen leben in der Gegenwart wie wir alle, sie tragen ihren traditionellen Schmuck und setzen ihre alten Traditionen fort, aber sie haben Kameras bei sich und benützen Flugzeuge. Warum sollten sie es nicht tun?
Auch die Ethnologen haben sich auf ihren Forschungsreisen und bei ihren Feldstudien angepasst und auf neue Aufgaben fokussiert. Der Kontakt zu den anderen Kulturen ist nicht mehr wie früher auf den Blick von aussen reduziert, sondern wechselseitig und multikooperativ. Vor allem spielt er sich zwischen Gleichgestellten ab. Die Menschen begegnen sich auf einer egalitären Ebene und lernen gegenseitig von einander. Das ist eine neue Einstellung, die sich etabliert hat und weit über Bronislaw Malinowskis "teilnehmende Beobachtung" oder das Studium von Kette und Schuss in der Weberei hinausreicht.
Warum Sammlungen?
Die Frage heisst also: Warum sollen Museen Sammlungen anlegen und unterhalten? Wie gehen sie mit den fremden Objekten um? Was ergibt sich daraus? Das ist das Thema der neuen Ausstellung "Und jetzt? Aufstand der Dinge am Amazonas", die Alexander Brust eingerichtet hat. Sie behandelt die Wechselbeziehung zwischen den Menschen hier und den Menschen dort mit ihren Kulturen, Bräuchen und Praktiken.
In der damit verbundene Problematik treten verschiedene Sub-Problematiken in Erscheinung. Während die Produktion von Gebrauchsgegenständen bei uns dem direkten Nutzen in einem auf das Funktionelle, im besten Fall auf Design beschränkten Rahmen unterworfen ist, weist sie in den fremden, von uns abweichenden Kulturen eine Sinn stiftende Bedeutung in einem rituellen beziehungsweise zeremoniellen Kontext auf, der mit Privilegien und Verpflichtungen verbunden ist.
Daraus ergibt sich sofort die fortführende Frage, wieweit es möglich ist, Objekte aus fremden Kulturen herauszunehmen und in unsere Gesellschaft mit unserem materialistischen Denken zu transferieren? Was geschieht dabei, was verändert sich im Bedeutungszusammenhang?
Auch darauf geht die Ausstellung ein. Fünf Sammlungen werden vorgestellt. Sie decken auf, welche Beziehungen zwischen den Menschen hier und den Menschen dort vorkommen und vor allem, welche Beziehungen durch die Objekte zwischen Menschen hergestellt werden und von hier aus wieder auf die Menschen in den Herkunftsgemeinschaften zurückwirken.
Dokumentierte Kulturen
Die Sammlung der Witoto und Ocaina von Jürg Gasché, 1969-70 angelegt und danach ins Museum in Basel gekommen, wurde aus Beständen der Familie Kiuru zusammengestellt. Später besuchte die Nachfahrin Fanny Kiuru das Museum und teilte den für die Sammlung Verantwortlichen mit, dass der Verkauf von damals nach heutiger Auffassung als Irrtum angesehen würde. Eine Forderung nach Rückgabe wurde nicht erhoben, aber die Bitte angebracht, die veränderte Beurteilung weiter zu kommunizieren.
Die Sammlung, die Vera Penteado im Jahr 2000 dem Museum vermachen wollte, bezog sich auf das Volk der Waura. Seine Angehörigen baten das Museum, die Annahme zu verweigern, weil die Waura darin ein für sie wertvolles Kulturerbe erblickten. An Stelle konnte das Museum die Sammlung Harald Schultz und Vilma Chiara erwerben. 2006 besuchten die Waura das Museum in Basel und akklamierten in der neuen Sammlung die erste ausführliche Dokumentation ihrer Kultur.
Die Objekte der Kaiba in der Sammlung des österreichischen Ethnologen Georg Grünberg erwiesen sich als wertvoll für die Erforschung der Kultur der Kaiba. Nach deren zwangsweiser Umsiedlung trug die Sammlung dazu bei, das Wissen dieser Ethnie zu bewahren und weiterzutragen.
Im Jahr 1962 bot der polnische Ethnologe Borys Malkin dem Museum in Basel eine Sammlung der Tiriyo an, später folgten mehrere Ergänzungen, was es erlaubte, dem kulturellen Wandlungsprozess nachzugehen.
Auch für die Yudja, von denen heute noch 350 Menschen leben, war eine Sammlung im Besitz des Museums ein Beweis für die Wertschätzung ihrer Kultur.
Die Objekte haben eine Biografie
Das Museum der Kulturen besitzt ungefähr 50 thematische Sammlungen über Amazonien. Bisher ist mit einer Ausnahme keine einzige zurückverlangt worden. Dies scheint damit zu tun zu haben, dass die Angehörigen der betreffenden Gesellschaften wissen, dass ihre Objekte in guten Händen sind. Das ist keinesfalls nur nur eine zurechtgelegte Selbstlegitimation des Museums, sondern ist auch darauf zurückzuführen, dass heute die weltweiten Kommunikationsverbindungen so gut ausgebaut sind, dass Alexander Brust in permanentem Kontakt mit den Angehörigen der Gesellschaften steht, deren Sammlung sich in Basel befinden.
Diese Wechselbeziehung zwischen dem Museum hier und den Menschen dort ist ja gerade der essentielle Punkt an der neuen Auffassung in der Ethnologie. Ausserdem stellt das Bundesamt für Kultur Mittel zur Verfügung für den Rücktransfer des hier erworbenen Wissens von den ethnologischen Gegenständen an ihre ehemaligen Besitzer.
Die Objekte in den Museen haben also eine Biografie, eine Geschichte, einen Wanderweg. Wenn sie im Museum angekommen sind, in einem neuen Umfeld, sind sie noch lange nicht am Ende ihrer Laufbahn. Ein neuer Lebenszyklus setzt ein, unter veränderten Voraussetzungen und neuen Möglichkeiten.
Masken als Subjekte
Das lässt sich am Beispiel der ausgestellten Masken der Waura zeigen. Masken sind bei ihnen personifizierte Geisteswesen, die als Angehörige mit ihnen leben, in die Gesellschaft einbezogen sind und Nahrung erhalten. Ist ihre Zeit vorüber, werden sie aus dem rituellen Zusammenhang herausgenommen und verbrannt, dem Wald zum Verrotten übergeben, zerstört, um die Lebenden nicht zu bedrohen. Ein Verkauf ist ausgeschlossen. Wie aber kann ein Museum eine solche Maske trotzdem erwerben und zugleich verhindern, dass sie ihre Kraft nicht verliert?
Indigene sind oft Menschen von einer genialen Schlauheit. Was tun also? Der Handel lässt sich realisieren, wenn die Museen als Akteure sich als Teil der Austauschbeziehung verstehen, also sich gewissermassen selbst in ein Subjekt verwandeln. Damit es keinerlei Anstoss gibt, werden den Masken auch noch gewisse Organe, zum Beispiel der Mund oder die Nase, amputiert. Dann steht dem Transfer in eine andere Kultur und Gesellschaft nichts mehr im Weg, und alle Beteiligten sind zufrieden.
Ob diese vom Animismus geprägte Vorstellung heute noch vertretbar sind, ist eine andere Frage. Sie war es in der jüngsten Zeit unter Berufung auf rationalistische Gründe eher nicht. Aber offenbar sind brasilianische Ethnologen heute wieder zu der früheren Auffassung zurückgekehrt mit dem Hinweis auf die Kontinuität von Natur, Leben und Kultur.
Die Art, Wissen weiterzugeben
Anschaulich gemacht wird die beschriebene Wanderungsbewegung der Bedeutungen beziehungsweise die Verschiebung von einem Kontext in einen anderen in einer Videoinstallation, die in der Ausstellung zu sehen ist. In den Jahren 1948 und 1955 hielt sich der Ethnologe und Kinderbuch-Übersetzer Franz Caspar bei den Tupari in Brasilien auf.
Ein Sohn folgte 2008 auf den Spuren des Vaters, und 2009 besuchte eine Delegation der Tupari das Museum der Kulturen in Basel. Das Filmteam von Thomas Isler, Anna-Lydia Florin und Aurelio Galfetti hat die beiden neueren Begegnungen begleitet und festgehalten. Sie werden jetzt auf zwei Projektionsflächen nebeneinander gezeigt.
Man sieht die Angehörigen der Tupari dabei, wie sie die im Besitz des Museums befindlichen Objekte ihrer Kultur betrachten und davon erzählen. Sie geben wieder, was sie darüber wissen, auf alten Aufnahmen erkennen sie ihre Angehörigen. Das ist Erinnerungskultur, aber auch eine Art und Weise, Wissen weiterzugeben und durch Weitergabe zugleich zu erhalten.
Fragen des Museums an sich selbst
Alles dies sind, wie man wohl zugeben muss, theoretische Fragen. Unwichtig sind sie nicht, aber vor allem betreffen sie das Museum selbst. Wie geht es mit den Sammlungen und den Objektgeschichten um? Wie bekommen die Museen weitere Informationen über die Sammlungsobjekte? Und wie wird Wissen überhaupt generiert? Auch das sind angemessene Überlegungen.
Und jetzt? So lautet bekanntlich die im Titel der Ausstellung aufgeworfene Frage. Das Museum adressiert sie selbstreferentiell mehr an sich selbst im Sinn eines Auftrags für die weitere Arbeit als an das Publikum. Soll überhaupt noch gesammelt werden? Oder müssen die Museen ganz neue Wege suchen und beschreiten? Und wie würden diese aussehen? Viele offene Fragen. Umso grösser ist die Erwartung auf eine durchaus denkbare Ausstellung mit dem Titel "Hier lang". Denn es gibt noch viel zu sagen.
22. März 2013