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"Das war für ihn das Todesurteil": Autorin Zoë Jenny
"Letztendlich geht es nur um eines – lieben und geliebt werden"
Star-Autorin Zoë Jenny über ihren Erzählband "Spätestens morgen", skandalöse Redaktionen und das Lieblingsbuch ihrer kleinen Tochter
Von Anna Wegelin
Märchenhochzeit und Kampfscheidung, Kinderlosigkeit und In-vitro-Fertilisation: Keine Autorin in der Schweiz bietet so viel Stoff für Glamour und Skandal wie Zoë Jenny (39). In diesen Tagen erscheint das neue Buch der gebürtigen Baslerin, ihr erster Erzählband "Spätestens morgen". Ein Gespräch über "inkompetente Kulturjournalisten", ihre Freundschaft mit Jürg Federspiel und die Sehnsucht nach der "heilen Familie".
OnlineReports: Zoë Jenny, Sie sind Schriftstellerin und Mutter eines kleinen Mädchens. Wie sieht Ihr Alltag aus?
Zoë Jenny: Voll. Ich oft komme nur zum Schreiben, wenn meine Tochter in der Spielgruppe ist oder abends im Bett. Ich schreibe oft nachts.
OnlineReports: Ihr neuer Erzählband "Spätestens morgen" versammelt zwölf Kurzgeschichten an Schauplätzen in der ganzen Welt, Schanghai, New York und auch Basel. Es geht um Einsamkeit und Freiheitsdrang, um Illusion und Wirklichkeit, um Glück und Schicksal. Es sind eher nachdenkliche Texte. Typisch für die heutige Zeit?
Jenny: Das kann ich nicht beurteilen. Es war mir ein grosses Bedürfnis, zu reisen und auch im Ausland zu leben. Insofern spiegeln die Geschichten auch meine Neugier auf die Welt.
OnlineReports: Zur Form der Kurzgeschichte oder Short Story: Kommt sie Ihnen aufgrund der begrenzten Zeitfenster fürs Schreiben entgegen?
Jenny: Ja. Wobei viele der Texte vor meiner Mutterschaft entstanden sind, in einem Zeitraum von insgesamt 15 Jahren. Die Kurzform kommt einem möglicherweise entgegen, wenn man ein kleines Kind hat. Aber ein kurzer Text ist nicht unbedingt schneller geschrieben.
OnlineReports: Sie waren gerade mal 23 Jahre alt, als Sie mit Ihrem Erstling "Das Blütenstaubzimmer" 1997 einen internationalen Beststeller landeten. Was bedeutet Ihnen das Schreiben?
Jenny: Alles, ich weiss nichts anderes. Ich habe nie etwas anderes gemacht und das werde ich auch immer machen. Ich war sechzehn, als meine allerersten Texte erschienen, Kurzgeschichten. Seit dann ist immer wieder etwas entstehen, bis heute. Und es geht weiter.
"Einem Roman kann durchaus eine
journalistische Recherche zugrunde liegen."
OnlineReports: Sie schreiben auch Kolumnen und Artikel, jüngst zur Edward Snowden-Affäre in der "Weltwoche". Was hat die Journalistin mit der Schriftstellerin Zoë Jenny zu tun?
Jenny: Ich schreibe nicht nur im Elfenbeinturm, sondern immer wieder auch über ganz aktuelle Problematiken. Im Buch "Ein schnelles Leben" (von 2002, Anm. d. Red.) geht es zum Beispiel um die Beziehung eines Deutschen mit einer Türkin. Es ist die Romeo und Julia-Thematik adaptiert auf das Problem einer multikulturellen Beziehung in Berlin, wo ich damals lebte. Ich habe viele Interviews gemacht. Es kann einem Roman also durchaus eine journalistische Recherche zugrunde liegen. Bei den Erzählungen ist das anders.
OnlineReports: Die Kurzgeschichte "Spätestens morgen", die Ihrem neuen Buch den Titel verleiht, handelt von der kurzen Begegnung zwischen einer jüngeren Frau und einem älteren Mann in New York. Sie findet im Sommer 1999 statt, als John F. Kennedy jr. mit seinem Privatflugzeug tödlich verunglückt. Was hat Sie dazu veranlasst, dieses Ereignis in Ihrer Short Story aufzunehmen?
Jenny: Der Text ist später entstanden, vor zehn Jahren. Es braucht einen gewissen zeitlichen Abstand, bis etwas literarisch verarbeitet werden kann, im Gegensatz zum journalistischen Schreiben. Ich war damals ein Jahr in New York. Da ist viel zwischen den Zeilen, das für den Leser hoffentlich spürbar wird. Es geht in dieser Geschichte um das, was man nicht direkt sagen kann. Es sind immer die Leerstellen, die den Text ausmachen.
OnlineReports: Ein Mann, der sterben möchte und gleichzeitig am Leben hängt. Eine Frau, die nicht recht weiss, wie es weitergehen soll.
Jenny: Sie sind wie Spiegel, sie hat etwas von ihm und umgekehrt. Beide haben eine Sehnsucht. So ist das ja bei der Sehnsucht – sie wird in der Regel nicht eingelöst oder nur kurzfristig.
OnlineReports: Ein allgemein menschliches Thema unabhängig von Ort und Zeit.
Jenny: Ich habe in dem Text versucht, die Stimmung festzuhalten, die damals in New York herrschte. Das Flugzeugunglück und das Warten auf die Bergung der Leichen war für mich eine Metapher für eine Stadt in einer seltsamen Erstarrung, die nicht weiss, wie es weitergeht. Vielleicht eine Vorahnung auf die Katastrophe, die sich anbahnte. Gut zwei Jahre später war "9/11".
"Es gibt in all meinen Texten
eine Verbindung vom Leben mit dem Tod."
OnlineReports: Ihr jüngster Texte im Erzählband, die "Ballade vom Rhein", ist eine Hommage an den verstorbenen Autor Jürg Federspiel.
Jenny: Was ganz schlimm für ihn war, er konnte im fortgeschrittenen Stadium seiner Parkinson-Krankheit nicht mehr schreiben. Seine Hand ging nicht mehr dorthin, wo er wollte. Ich denke, das war für ihn das Todesurteil. Der Text ist mein Versuch, um damit fertig zu werden, dass ich mich nicht von ihm verabschieden konnte.
OnlineReports: Wie war Ihr Verhältnis zu Jürg Federspiel?
Jenny: Er hat meine Sachen gelesen und er hat mir Gedichte geschrieben. Wir haben uns über andere Autoren ausgetauscht. Es war eine sehr wertvolle platonische Beziehung, einzigartig für mein Leben. Wir mögen beide Short Stories, Kurzgeschichten in der amerikanischen Tradition. Jürg hat mir sein New York gezeigt. Er hat Amerika sehr gern gehabt und war überhaupt in der Welt daheim. Es hat mich immer verwundert, dass er wieder nach Basel zurück wollte. Aber vielleicht war das ja der Ort, an dem er sterben wollte.
OnlineReports: In der Erzählung "Die Fähre", die in Basel spielt, greifen Sie das Thema Suizid auf. Was hat Sie zu dieser Kurzgeschichte motiviert?
Jenny: Ich verarbeite in diesem Text etwas, das an meiner Schule passiert ist. Ein junger Mensch halt, der gehen wollte. Das passiert andauernd, bei jungen wie bei alten Menschen. Es gibt in all meinen Texten eine Verbindung vom Leben mit dem Tod.
OnlineReports: Es gibt aber auch den Aufbruch oder zumindest den Freiheitsdrang in "Spätestens morgen": Die drei Chinesinnen in Schanghai, die ausreisen wollen; die Mittfünfzigerin, die mit ihrem jungen Liebhaber abhaut; oder der von seiner Frau getrennt lebende Vater in London in der Erzählung "Sugar Rush": Als Mike die beiden Kinder bei sich hat, macht er mit ihnen genau das, was seine neurotische Ex nie erlauben würde – sich eine süsse Kalorienbombe reinziehen. Er kann einem ja richtig leid tun, der Mann.
Jenny: Und es gibt solche Leute im wirklichen Leben. Manchmal sind sie noch viel schlimmer. Literatur ist nie pure Erfindung, sondern spiegelt das, was schon da ist.
OnlineReports: Und bleibt: Das Motiv der problematischen Mutter-Tochter-Beziehung aus Ihrem Debütroman "Das Blütenstaubzimmer" taucht in der Erzählung "Sophies Sommer" wieder auf.
Jenny: Kindheitserlebnisse prägen uns lebenslänglich. Das macht sie ja auch so wertvoll, so fragil und sensibel. Jetzt habe ich selbst eine Tochter und stelle fest: Man kann viel falsch machen.
"Ich bin nur dafür verantwortlich,
was ich selber schreibe."
OnlineReports: Viele Menschen sehnen sich nach der "heilen Familie".
Jenny: Die klassische Familienkonstellation ist oft nicht möglich. Die Familie ändert sich, bricht auseinander, setzt sich neu zusammen. Es gibt all diese neuen Familien-Formen, und sie entwickeln sich alle ständig weiter. Es gibt kein Richtig oder Falsch. Es kommt auf die einzelnen Personen an, wie sie "Familie" leben. Letztendlich geht es nur um eines – lieben und geliebt werden. Alle meine Figuren haben das in sich. Es ist so banal, dass es gelingt. Doch viele oder viel bleibt dabei auf der Strecke. Dies zu benennen, dorthin zu führen – das kann man beim Schreiben erreichen. Mit Kurzgeschichten kann man sich auf den Moment konzentrieren und unglaublich viel darüber sagen, was Menschen tun und sich gegenseitig antun.
OnlineReports: Schon "Das Blütenstaubzimmer" handelt davon, was eine Mutter ihrer Tochter antun kann. Ihr Erstling macht Sie über Nacht zum "Fräuleinwunder" ...
Jenny: ... das Schöne am Älterwerden ist, dass sich solche Blödheiten mit der Zeit erledigen.
OnlineReports: Heute gelten Sie als Star-Autorin. Im "Blick" lese ich, dass Sie als junge Frau abgetrieben haben, und in der "Schweizer Illustrierten", dass Sie nach der schrecklichen Scheidung Ihr neues Liebesglück gefunden haben. Warum tun Sie mir als Leserin solche Homestories an?
Jenny: (Lacht.) Es gibt ein unendliches Mass an Paratext. Ich bin nicht verantwortlich für diesen Paratext. Es gibt einen Punkt, an dem ich keinen Einfluss mehr habe. Ab diesem Punkt können ganz viele Menschen ganz viele unterschiedliche Meinungen haben und sich unendlich ausleben, im Guten wie im Schlechten. Da wird man dann einfach zur Projektionsfläche. Ich bin nur dafür verantwortlich, was ich selber schreibe.
OnlineReports: Sie sorgen ja selber dafür, dass Sie in die Klatschspalten kommen.
Jenny: Sicher nicht. Denn 80 Prozent von dem, was über mich geschrieben wird, habe ich weder initiiert noch vorher gelesen. Es ist unmöglich, alles zu kontrollieren. Allerdings nehme ich auch nicht alles so furchtbar wichtig, was über mich erscheint. Ich habe elf Jahre im Ausland gelebt und lese bei weitem nicht alles über meine Person. Zum Glück.
OnlineReports: In der Boulevard- und Peoplepresse kommen Sie gut weg.
Jenny: Wer sagt, dass Boulevardmedien nur über Missen und Sportler schreiben sollen? Ich bin hoffentlich nicht die erste und letzte Autorin, die in einer Illustrierten erscheinen wird. Und ich habe gerade im Boulevard sehr anständige Journalisten getroffen, ich hatte nie Probleme mit ihnen. Ich finde es ausserordentlich elitär und sehr unsympathisch, wenn man einer Autorin vorwirft, dass sie sich zu aktuellen gesellschaftspolitischen Themen äussert oder in einer Illustrierten erscheint.
"Ich habe zum Teil
haarsträubende Erfahrungen mit sogenannten Kulturjournalisten gemacht."
OnlineReports: Sie meinen die Literaturkritik, die Sie nicht gerade verhätschelt.
Jenny: Ich habe zum Teil haarsträubende Erfahrungen mit sogenannten Kulturjournalisten gemacht. Inkompetente Leute, die über meine Bücher schrieben, ohne das Buch gelesen zu haben! Einem bekannten Journalisten hatte die Redaktion den Befehl erteilt, einen Verriss über eines meiner Bücher zu schreiben, obwohl er das Buch selber gut fand. Er hat sich dann bei mir entschuldigt - es war ihm peinlich.
OnlineReports: Können Sie sich erklären, weshalb Sie von der Literaturkritik derart viel Häme zu spüren kriegen?
Jenny: Nein, dass kann ich nicht, ich konzentriere mich lieber auf meine eigene Arbeit. Solche Phänomene zu erklären ist die Aufgabe der Literatur- und Medienwissenschaft.
OnlineReports: Sie werden am 16. September bei Ihrem Vater Matthyas Jenny im Kleinen Literaturhaus Basel aus Ihrem Band "Spätestens morgen" lesen. Was bedeutet Ihnen Basel?
Jenny: Basel ist meine Heimatstadt und ein wichtiger Ort in meinem Leben. Hier ist meine Familie und ich habe viele Kindheitserinnerungen an Basel. Es gibt in jedem Fall einen sentimentalen Bezug. Der allererste Bezugspunkt ist immer die Buchhandlung meines Vaters.
OnlineReports: Tauschen Sie sich mit Mattyhas Jenny über Ihre Bücher aus?
Jenny: Nein, weniger. Von meinem Vater wird jetzt dann auch ein Buch erscheinen. Ich weiss nichts darüber und bin sehr gespannt. Wir reden schon darüber, was jeder so macht. Aber mehr weiss ich auch nicht. Mein Bruder schreibt Gedichte. Es kommt dann einfach ab und zu ein Buch von einem von uns dreien heraus. (Lacht.)
OnlineReports: Wie hält es Ihre kleine Tochter mit Lesen?
Jenny: Sie ist eindeutig bücherfixiert und hat eine kleine Bibliothek. Wir schauen natürlich viele Bücher zusammen an und ich lese ihr jeden Abend vor.
OnlineReports: Welches ist Ihr beider Lieblingsbuch?
Jenny: "Heidi" von Johanna Spyri. Ein wunderschönes Stück Literatur - und auch eine harte, heftige Geschichte. Wir lesen auch gerne die Märchen von Hans Christian Andersen, die haben es in sich. Meine Tochter wird sicher mal gerne lesen und sie findet es natürlich auch toll, dass ihr Grossvater eine eigene Buchhandlung hat.
Info Buch
Zoë Jenny: "Spätestens morgen", Erzählungen. Frankfurter Verlagsanstalt, 140 Seiten. ISBN 10:3-627-00197-4, etwa 26 Franken.
Info Lesungen
Lesungen in Basel: Montag, 16. September, 19.30 Uhr, Kleines Literaturhaus, im Rahmen von "20 Jahre Bachletten Buchhandlung". Freitag, 25. Oktober, 20 Uhr, Buchhandlung Thalia, im Rahmen der "Basler Buchnacht".
Buchpremiere in Zürich: Montag, 30. September, 19 Uhr, Kaufleuten.
4. September 2013