© Foto by Peter Knechtli, OnlineReports.ch
Manfred Gilgien: Poète mauditDer "Strassen-Tango" des verkannten, 1993 verstorbenen Basler Lyrikers erscheint als erweiterter Nachdruck (red.) Der 1993 im Alter von 45 Jahren verstorbene Basler Dichter Manfred Gilgien war gleichermassen Rabauke und Lyrik-Genie. Jetzt hat der Verlag Nachtmaschine seine 1978 im Band "Strassen-Tango" veröffentlichten Gedichte und Prosa mit dem Nachlass und einem Vorwort von Hansjörg Schneider neu verlegt. OnlineReports dokumentiert hier exklusiv Schneiders Text in voller Länge. Leute in Basel, die Manfred Gilgien gekannt und gern gehabt haben, könnten stundenlang erzählen von diesem Edel-Clochard. Von seinem verschlissenen Asphalt-Adel, seiner Neugier und aufblitzenden Liebessehnsucht, seiner Arroganz und hilflosen Aggressivität. Er war ein Poète maudit, wie er im Büchlein steht.
1948 geboren, die ersten neun Jahre in Winterthur aufgewachsen, dann im Basler Vorort Arlesheim, in einem schmucken Reihenhaus. Mutter Auslandschweizerin aus Schlesien, Vater aus Fribourg, Zugführer bei der SBB. Manfred Gilgien machte eine kaufmännische Lehre bei der Basler Kantonalbank, zweitbeste Abschlussprüfung seines Jahrgangs. Anschliessend zwei Jahre Arbeit in der Bank, nebenher die Abendmatur. Dann Besuch der Universität.
1968, während der Studentenrevolte, war er als Zwanzigjähriger im genau richtigen Alter. Damals kamen Dürrenmatt und Düggelin ans Basler Theater und liessen die Stadt aufleuchten. Es war eine gute Zeit, und Manfred beschloss, fortan kein Geld mehr mit Lohnarbeit zu verdienen, sondern als Schriftsteller zu leben. Die Ablehnung jeder kleinbürgerlichen Ordnung schien ihm derart tief eingeboren zu sein, dass er sich nicht eingliedern liess. Er war nicht brauchbar, ganz und gar unverwertbar. Asozial war er indessen nicht. Er hat Gesellschaft gesucht in den Rand- und Grauzonen, in Kneipen, in Künstlerkreisen. Er hatte prominente Bewunderer, Dieter Roth, Jürg Federspiel, Rainer Brambach, Werner Lutz und Hans Werthmüller. Eine Zeitlang war er liiert mit der Schauspielerin Rosel Schäfer.
Er hat sich schon in jungen Jahren dem Bier und dem Wein hingegeben, wurde bevormundet, bezog Invalidenrente. Dieses Geld hat ihm nicht gereicht. Er wollte nicht zuhause am Küchentisch verkümmern, er wollte in der Oeffentlichkeit auf den Putz hauen. So wurde er zum Bettler. Er war der genialste Schnorrer ganz Basels. Er hat geschnorrt, ohne sich anzubiedern. Er war gescheit, sensibel und nie langweilig. Und er hat Zeichen gesetzt.Einmal, als ich ihn um Mitternacht heim nahm, waren vor dem Mietshaus, in dem ich mit meiner Familie wohnte, alte Möbel aufgestapelt, Wohnwand, Kanapee, der ganze Kleinbürgerkram, bereit zur Sperrgutabfuhr. Wir setzten uns in die Küche und tranken eine Flasche Wein. Dann komplimentierte ich ihn hinaus. Er protestierte, aber er hatte zu grossen Respekt vor den schlafenden Kindern, er wurde nicht laut. Kurze Zeit später hörte ich es draussen auf dem Trottoir krachen. Ich ging nachschauen und sah Manfred auf einer alten Matratze liegen, inmitten der alten Möbel. Vermutlich hat er dort geschlafen, bis es ihm zu kalt wurde.
Einmal traf ich ihn in der Augenklinik, ein Freund hatte mich angerufen und informiert. Ich ging hin und redete mit einem Arzt, der erklärte, Manfred habe eine schwere Augeninfektion, er würde ein Auge verlieren, wenn er nicht dableiben und sich sogleich behandeln lassen würde.
Es war nichts zu machen, Manfred hat die Klinik verlassen. Es ist mir noch heute unbegreiflich, warum wir ihn nicht überzeugen konnten. Sein Eigensinn war so unantastbar, dass wir ihn gehen liessen.
Er hat sich erst am andern Tag in Behandlung begeben. Aber da war es zu spät. Er hat ein Auge verloren.
Er hat sich ins Kleinbasel zurückgezogen, wo er eine Sozialwohnung hatte. In Grossbasel ist er nur noch selten aufgetaucht, wohl auch deshalb, weil er in einigen der einschlägigen Kneipen Wirtschaftsverbot hatte. Die Ausnahme war die Kunsthalle, wo er nach wie vor freundlich bedient wurde.
Ab und zu habe ich ihn drüben im Kleinbasel besucht, im Swiss Chalet an der Rheingasse. Er war immer dort, wenn ich kam. Es war deutlich zu sehen, dass er in dieser Kneipe ein geachteter Gast war. Er hat sich jeweils zu mir gesetzt, wir haben Rotwein getrunken und über vergangene Zeiten geredet.
Im Sommer 1993 hat er mir auf dem Telefonbeantworter mitgeteilt, er möchte mich wieder einmal sehen. Da er kein Telefon hatte, habe ich ihm geschrieben. Ich habe dann nichts mehr gehört von ihm, bis ich vernahm, er sei in seiner Kleinhüninger Wohnung, behütet von seiner Mutter, an Krebs gestorben.
Seine Asche wurde am 16. November 1993 auf dem Friedhof Arlesheim beigesetzt. Matthyas Jenny, der sein Vormund war, und ich waren anwesend. In der Abdankungshalle sassen nur wenige Leute, alte Frauen vor allem, seine Mutter, auch seine Schwester und sein Bruder. Der Pfarrer hatte keine Ahnung, was er sagen sollte. Offenbar wurde hier eine gescheiterte Existenz begraben, ein Aergernis selbst noch im Tode.
* * *
Dieses kurze Leben wäre wohl nicht der öffentlichen Rede wert, wenn Manfred Gilgien nicht ein grosser Lyriker gewesen wäre. Wenn ich eine Anthologie der Deutschschweizer Lyrik aus dem 20. Jahrhundert zusammen stellen würde, hätte er einen Ehrenplatz darin, zusammen mit Rainer Brambach, Alexander Xaver Gwerder, Hans Morgenthaler und Robert Walser. Er hat zwar nur kurze Zeit geschrieben, und in dieser kurzen Zeit hat er wenig geschrieben. Dann war es aus, es ist ihm nichts mehr eingefallen. Alle Bestechungsversuche halfen nichts. Er ist zwar noch ein paarmal dahergekommen mit guten Gedichten, um die versprochenen fünfzig Franken abzuholen. Aber beim dritten Mal hat man gemerkt, dass er sie bei Brecht abgeschrieben hatte.
* * *
Man kann, wenn man will, die Deutschschweizer Lyrik des 20. Jahrhunderts in zwei Gruppen einteilen. Zur einen Gruppe gehören die Traditionalisten, die an ihren Gedichten bosselten und feilten, bis sie einigermassen dem klassischen Ideal entsprachen, das Professor Emil Staiger propagierte. Es waren gute Leute wie Albin Zollinger darunter, die für ihre Autoritätsgläubigkeit indessen einen hohen Preis bezahlen mussten. Ihre Literatur ist gestorben.
* * *
Matthyas Jenny hat 1978 vom Strassen-Tango eine zweite Auflage gemacht. Auch sie ist inzwischen vergriffen. Manfred Gilgien hat vom Basler Literaturkredit dafür Geld bekommen. Das ehrt die Stadt Basel. Die Literaturzeitschrift orte hat 1997 über Gilgien berichtet. Gerwig Epkes vom Südwestfunk Baden-Baden hat im Jahre 2000 ein halbstündiges Feature über ihn gesendet. Erfolglos war der Strassen-Tango also nicht.
* Anlässlich der Lesung und Buchvernissage am 8. April 2005 in Basel. Mit Doris Wolters und Klaus Brömmelmeier. Die Lesung wurde vom SWR2 Baden-Baden aufgezeichnet. 4. Mai 2005
|
eine bewegte Geschichte |
Reaktionen |
Theater Basel: Beethoven in Marthalers Wurstmaschine
Mit seinem Werk "Tiefer Graben 8" lässt der Schweizer Regisseur das Publikum ratlos.
Reaktionen |
Neues Helene-Bossert-Buch:
Erste Auflage unbrauchbar
Im wissenschaftlichen Werk des "Verlags
Baselland" fehlen die Fussnoten-Ziffern.
Mit freundlichen Grüssen an die Nachwelt – eine Glosse
Nach den Beatles und Udo Jürgens: Ob auch Baschi einen vergessenen Song hinterlässt?
Theater Basel: Der "Ring"
ist fertig geschmiedet
Mit der "Götterdämmerung" hat der letzte
Teil von Richard Wagners Tetralogie Premiere.
"Siegfried" am Theater Basel:
Heldentaten und frühere Schuld
Richard Wagners "Ring des Nibelungen" geht vor vollbesetzten Reihen in die dritte Runde.
Reaktionen |
Kunstmuseum: Finanzchef
Tim Kretschmer ist weg
Nach 2,55-Millionen-Defizit kommt es zu personellen Entscheiden.
Touche ma bouche sagt
nach 28 Jahren "Aadie"
Im Abschiedsinterview blicken Daniel Buser
und Roland Suter zurück – und nach vorne.
"Zu Fuss gen Süden":
Das Buch von Linard Candreia
Der frühere SP-Landrat ist in den vergangenen Jahren durch die Schweiz gewandert.
Ist die Pauluskirche
vom Spalentor inspiriert?
Gastbeitrag zur verblüffenden Ähnlichkeit der beiden Basler Wahrzeichen.
www.onlinereports.ch - Das unabhängige News-Portal der Nordwestschweiz
© Das Copyright sämtlicher auf dem Portal www.onlinereports.ch enthaltenen multimedialer Inhalte (Text, Bild, Audio, Video) liegt bei der OnlineReports GmbH sowie bei den Autorinnen und Autoren. Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck und Veröffentlichungen jeder Art nur gegen Honorar und mit schriftlichem Einverständnis der Redaktion von OnlineReports.ch.
Die Redaktion bedingt hiermit jegliche Verantwortung und Haftung für Werbe-Banner oder andere Beiträge von Dritten oder einzelnen Autoren ab, die eigene Beiträge, wenn auch mit Zustimmung der Redaktion, auf der Plattform von OnlineReports publizieren. OnlineReports bemüht sich nach bestem Wissen und Gewissen darum, Urheber- und andere Rechte von Dritten durch ihre Publikationen nicht zu verletzen. Wer dennoch eine Verletzung derartiger Rechte auf OnlineReports feststellt, wird gebeten, die Redaktion umgehend zu informieren, damit die beanstandeten Inhalte unverzüglich entfernt werden können.
Auf dieser Website gibt es Links zu Websites Dritter. Sobald Sie diese anklicken, verlassen Sie unseren Einflussbereich. Für fremde Websites, zu welchen von dieser Website aus ein Link besteht, übernimmt OnlineReports keine inhaltliche oder rechtliche Verantwortung. Dasselbe gilt für Websites Dritter, die auf OnlineReports verlinken.