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© Fotos by Ingo Hoehn
Auf Realismus folgt Surrealismus: Die Basler Produktion nimmt sich viele Freiheiten.

"Carmen" am Theater Basel: Das Opfer ist nicht allein

Bizets Meisteroper wird kräftig gegen den Strich gebürstet. Ganz zufrieden kann man eigentlich nur mit den musikalischen Leistungen sein.


Von Sigfried Schibli


Also ehrlich, man weiss gar nicht mehr, wie man über diese Oper sprechen soll, nachdem das Wort "Zigeuner" auf den Index gekommen ist. Auch am Theater Basel ist nicht von der feurigen Zigeunerin Carmen die Rede, sondern von einer "verführerischen, unabhängigen, radikalen" Frau, die als "Projektionsfläche männlicher Exotismusfantasien" dient. Und dies, obwohl im Text dutzendfach von der "Bohémienne" die Rede ist und Carmen sogar sagt: "Oui, je suis bohémienne."

Die unangepasste Zigarrenfabrik-Arbeiterin, die reihenweise Männer in die Liebesverzweiflung treibt, ist in der Sicht der argentinischen Regisseurin Constanza Macras eine selbstbewusste, auf Emanzipationskurs befindliche Frau. Eine Aussenseiterin und Pionierin, die für ihren Kampf bitter bezahlen muss.

Einmal entrollt sie ein Transparent, auf dem das Symbol des Feminismus prangt, und reckt am Ende des zweiten Akts kämpferisch die Faust. Doch am Ende stirbt sie durch die Hand ihres Liebhabers Don José, der ihretwegen im Gefängnis landete und seine militärische Degradierung hinnehmen musste. Auch er ist ein Opfer. Während ihr neuer Liebhaber Escamillo in der Arena einen Stier abschlachtet und sich feiern lässt, fällt Carmen inmitten der Zuschauer leblos zu Boden.

Frauen dürfen nicht unzüchtig sein, nur Männer.

Aber sie fällt nicht allein, und das liegt an der politischen Botschaft, die hier mehr dem Stück übergestülpt als aus ihm abgeleitet wird.

Mit Carmen fallen viele andere, sie ist die Stellvertreterin eines ganzen Geschlechts von unterdrückten, ausgebeuteten Frauen. Und dass die Fabrikarbeiterinnen hilflose Opfer sind, zeigt schon ihr erster Auftritt: In schwarzen Gewändern schleichen sie, den Blick nach unten gewandt, nach ihrer Pause an ihre Arbeitsplätze zurück. "Unzüchtige Blicke, kokette Miene", kommentieren die Soldaten laut dem Textbuch. Davon ist in der Basler Inszenierung allerdings nichts zu sehen. Frauen dürfen nicht unzüchtig sein, nur Männer.

Wie überhaupt die Basler Produktion in fast allem von den gewohnten Bildern abweicht und sich enorme Freiheiten nimmt, auch in der Formulierung der (englisch) gesprochenen Dialoge. Im ersten Akt sieht man filmische Projektionen von Frauen-Demos aus unserer Zeit. Auf Realismus folgt Surrealismus. Plötzlich erobern Raubtiergestalten wie im Zirkus die Bühne, dann werden wir mit Aufnahmen eines durchschnittlichen Familienhaushalts aus den Sechzigerjahren konfrontiert, wo die Ehefrau und Mutter noch für die Männer der Familie kochte und man anständig zur Kirche ging. Dazu trällert Micaëla, die frühere Freundin von Don José, ihr trauriges Lied von der Mutter, die ihren José vermisst und ihn bittet, er möge doch Micaëla zur Frau nehmen und heimkommen.

 

"Verführerisch, unabhängig, radikal": Rachael Wilson als Carmen.

Solche Widersprüche zwischen dem Text und den Bildern dazu sind natürlich von der femininistischen Regie gewollt, und sie entbehren oft nicht einer gewissen Ironie, ebenso wie die mehr oder weniger akrobatischen getanzten Einlagen.

Die filmischen Dokumente werden vom zweiten Akt an seltener, irgendwie geht der Regisseurin der propagandistische Stoff aus, und der Agit-Prop pausiert. Dafür nehmen aber die Zirkus-Allegorien zu. Die Berglandschaft mit der Schmugglerkneipe von Lillas Pastia mutiert urplötzlich in einen Zirkus (Bühne: Simon Lesemann), in dem eine bunte, hochvirtuose Akrobatentruppe herumturnt und ein ebenso farbenfrohes, mit Popfiguren (Micky Maus, Pink Panther) bestücktes Publikum auf Entertainment hofft, ohne dafür auch nur einen Finger zu rühren. Wenn José und Escamillo zum Zweikampf aufeinandertreffen, ähneln sie zwei hoffnungslos traurigen, todgeweihten Clowns.

Dirigent Maxime Pascal legt vom ersten Takt an ein energetisches Tempo vor.

Dass das Premierenpublikum am Samstag nach der (mit Pause) fast dreistündigen Aufführung mit ihren ständig wechselnden Kostümierungen und den bisweilen willkürlichen Tanzeinlagen etwas ratlos wirkte, lässt sich gut nachvollziehen. Ganz zufrieden konnte man eigentlich nur mit den musikalischen Leistungen sein. Dirigent Maxime Pascal legte mit dem Sinfonieorchester Basel vom ersten Takt an ein zügiges, energetisches Tempo vor, da gab es mitreissende Steigerungen und packende Soli. Nur zu Beginn des dritten Aktes verlor der Dirigent etwas den Kontakt zur Bühne und preschte davon.

Die Mezzosopranistin Rachael Wilson hat mit ihrer solid gestützen, fast etwas männlichen Stimme einen starken Auftritt. Sie wird in der ganzen Aufführung nicht an Intensität nachlassen und schafft es, dass man selbst dort Kastagnetten hört, wo gar keine erklingen. Als Zigeunerin wirkt sie kaum jemals, dafür trägt sie kitschiges, bunt leuchtendes Schuhwerk (Kostüme: Slavna Martinovic). Ihr Partner José (Edgaras Montvidas) ist gestisch so steif wie ein Bügelbrett, singt aber mit perfekt kontrolliertem, intonatorisch sauberem und bis in die Kopfstimme klar ansprechendem Tenor. Eine Freude ist auch Sarah Brady als Michaëla, die uns eine Lektion dazu erteilt, was Legatogesang ist. Eher blass wirkte Kyu Choi als Torero.

Starke Auftritte hat der Basler Theaterchor mitsamt Extrachor (Leitung Michael Clark), der durch die Mädchenkantorei verstärkt wird. Den jungen Bühnensängerinnen werden die pseudo-spanischen Lieder noch lang in Erinnerung bleiben, auch wenn Carmen keine richtige Zigeunerin ist. Das Theater hat optimistisch nicht weniger als 16 Aufführungen geplant, allerdings mit wechselnden Besetzungen.

4. Februar 2024

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