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"Der Tod gehört zum Leben": Forensikerin Eva Scheurer, Obduktionssaal
Frau Forensikerin im Reich der Gewalt und der Toten
Mit der Forscherin Eva Scheurer ist erstmals eine Frau Chefin des Basler Instituts für Rechtsmedizin
Von Ruedi Suter
Ihr Urteil hat Gewicht. Sie hilft Mörder überführen, Unschuldige freisprechen, Vergewaltigungen und Kindesmisshandlungen aufklären. Sie ist Uni-Dozentin für Forensik, und sie leitet neuerdings das Basler Institut für Rechtsmedizin. Klar ist jetzt schon: Eva Scheurer bringt neue Ideen in die alte Männerdomäne der Obduktionssäle.
Der Tod lauert in den Augen: Verlieren sie ihren Glanz, brechen und erstarren sie, hat sich das Leben aus unserem Körper verabschiedet. Wohin, das sei hier offen gelassen. Diese Augen aber, die mich bei diesem Gespräch mustern, sind ein frappierender Gegensatz zum Tod. Zu lebendig wirkt der Blick von Eva Scheurer, zu leuchtend das Graublaugrün der Iris.
Ihre Augen verraten Wissensdurst, Gespür, aber auch ein unstillbares Interesse an den körperlichen Manifestationen des Lebens. Und damit natürlich auch an der menschlichen Verletzlichkeit, am Kranksein und am Ableben. Nein, so jung, so lebhaft und offen hatte ich mir die neue Direktorin des Instituts für Rechtsmedizin der Universität Basel nicht vorgestellt.
Bisher eine Männer-Domäne
Bis vor kurzem noch dominierte bei den Pathologen und Rechtsmedizinern das Bild älterer Herren, die sich in den Obduktionssälen mit ernsten Mienen über Leichen, Mikroskope und Gutachten beugten. Das moderne Bild dieser einstigen Männerbastion prägte vor allem die Filmindustrie – mit der visuellen Aufwertung der Rechtsmedizin und mit jüngeren Schauspielerinnen, die selbstbewusste Medizinerinnen mimen.
Sie, die am 1. November letzten Jahres im Alter von 43 Jahren das seit 1997 von Volker Dittmann geleitete Amt übernahm, könnte durchaus eine von ihnen sein. Mit dem Unterschied, dass sie vom Fach auch tatsächlich etwas versteht. Denn ihre Diagnosen und Gutachten sind echt und haben Gewicht. Frau Professor Dr. med. Dipl. phys. Eva Scheurer trägt eine Menge Verantwortung: Sie kann Mörder überführen oder Unschuldige aus dem Gefängnis holen. Sie kann vergewaltigten Frauen und misshandelten Kindern zu ihrem Recht und neuem Mut verhelfen. Sie kann aber auch Gerichtsurteile beeinflussen, Menschen vor Unglück bewahren oder dem Schicksal von Opfern und Tätern eine neue Wendung geben.
Jede Leiche hat ein letztes Geheimnis
Ihr liebster Arbeitsplatz, versichert sie in ihrem hellen Büro, sei der Obduktionssaal. Sie lächelt, als spräche sie von einer Blumenwiese. Dabei befasst sie sich mit Themen und Aufgaben, die zunächst einmal nur Bedrückung auslösen. Lebende werden hier zwangsläufig an das eigene körperliche Ende erinnert. Ausser in den Friedhöfen sind die Toten in Basel wohl nirgends so gegenwärtig wie in den Gemäuern des Instituts für Rechtsmedizin mit seinen 36 Mitarbeitenden an der Pestalozzistrasse 22. Denn hier versuchen Mediziner, Präparatoren, Chemiker, Laboranten, Biologen und Administratoren beiderlei Geschlechts jeden Tag mit Wissen, Erfahrung und Hightech die neu eintreffenden Rätsel um Todesfälle, Mord und Totschlag, aber auch um Verletzungen und Sexualverbrechen, Drogen und Fahreignung in ihren drei Abteilungen zu lüften: Forensische Medizin und Verkehrsmedizin, Forensische Genetik und Forensische Chemie und Toxikologie.
Aber eben, am wohlsten fühlt sich Chefin Scheurer im Autopsieraum. In dieser überaus nüchternen, rundum gekachelten Werkstatt, wo im Kunstlicht auf zwei abwaschbaren Steintischen mit Messern, Scheren, Klammern, Lupen, Pinzetten die sterblichen Überreste von Menschen untersucht werden. Von Zeitgenossen, die unter nicht ganz geklärten Umständen das Zeitliche gesegnet haben. Von Bürgern und Bürgerinnen also, die ermordet wurden, die sich das Leben nahmen, die tödlich verunfallten oder die sonst auf eine von unzähligen Möglichkeiten zu Tode kamen. Von völlig Unbekannten aber auch, deren Geschlecht, Alter oder Identität im Dunklen liegt oder von denen nur ein Körperteil übrigblieb, ein Kopf oder ein Bein, vielleicht aber auch nur ein Fingerabdruck, ein Haar, Zähne oder eine Schuppe.
Gemeinsam haben die Leichen – oder das, was von ihnen übrig bleibt – nur etwas: Sie hinterlassen ein Geheimnis, das weder die Polizei, die Staatsanwaltschaft noch jener Arzt zweifelsfrei beantworten konnte, der den Todesschein ausfüllte. Dieses Geheimnis bei jedem einzelnen Fall wenn immer nur möglich zu lüften, das ist das ehrgeizige Ziel Eva Scheurers und ihres Teams.
Der lodernde Mensch in der Schönaustrasse
Wie bei dieser menschlichen Fackel, die am Donnerstag, 12. Februar 2015 um 17.35 Uhr von den entsetzten Anwohnern in einem Hinterhof der Schönaustrasse in Basel entdeckt wurde. Laut einer Kurzmeldung der Staatsanwaltschaft an die Öffentlichkeit handelte es sich um einen Mann, der trotz des Löschens der Flammen durch Nachbarn kurz nachher im Spital verstarb. Die Tragödie hinterliess Fragen, viele Fragen. Die Staatsanwaltschaft aber meldete lediglich: "Hinweise auf Dritteinwirkung oder einen Unfall liegen gemäss den Ermittlungen der Kriminalpolizei und der Kriminaltechnischen Abteilungen nicht vor." Was also war mit dem Unglücklichen geschehen?
Dies herauszufinden, lag nun am Institut für Rechtsmedizin. Der Auftrag des zuständigen Staatsanwalts lautete, den "aussergewöhnlichen Todesfall", so der Fachbegriff, baldmöglichst zu untersuchen. Also: Was war die Todesursache? War das Opfer angegriffen worden? Oder hatte es sich das Leben genommen? Hatte es Medikament- oder Drogenspuren im Blut? War sein Körper von Verletzungen gezeichnet, die auf einen Kampf hindeuten würden? Wurden Brandbeschleuniger eingesetzt? Was waren die Hintergründe, die möglichen Auslöser dieses Todesfalles? Fragen, welche die Rechtsmedizin unterdessen beantworten könnte.
Aber Eva Scheurer schweigt, verweist auf die Geheimhaltungspflicht ihres Betriebs: Keine Auskunft zu aktuellen Fällen. Dass sich der Mann aus dem Leben nahm, will auch Peter Gill nicht bestätigen. Es gelte, Verwandte zu schonen und Nachahmungen zu verhindern, begründet der Mediensprecher der Basler Staatsanwaltschaft. So werden dem Thema Tod tabuisierende Grenzen gesetzt, auch von Amtes wegen.
Analytische Blicke in die "sprechenden Körper"
Reine Alltagsroutine, wenn nach einem ersten Gespräch zu einem neuen Fall die gross gewachsene Rechtsmedizinerin die Latexhandschuhe überstreift und sich, stets von Teammitgliedern assistiert, dem auf dem Obduktionstisch liegenden Leichnam zuwendet. Dieser wird nach einer ausführlichen äusserlichen Untersuchung und gesprochener Beschreibung in ein Aufnahmegerät mit dem Messer vom Brustkorb bis zum Schambein aufgeschnitten, um das Fettgewebe und die Muskeln, Sehnen, Knochen oder Organe genau zu betrachten und Veränderungen und Verletzungen zu beurteilen. Erhellende Einblicke in das Körperinnere erlaubt aber auch die als höchst hilfreich erachtete Computertomographie mit ihren Schnittbildern.
Was in armen Ländern, in Kriegen oder bei Katastrophen oftmals völlig unmöglich ist und meist mit einer raschen Bestattung seinen Abschluss findet, will in unserer Zivilisation bei Zweifeln an der Todesursache erst nach aufwendigen Untersuchungen und beruhigendem Wissensgewinn erledigt sein.
Ein Luxus? Vielleicht. Aber auch eine Notwendigkeit, die sich jeder Rechtsstaat leisten muss. Denn auch Tote sprechen, einmal leiser, einmal lauter. Leichen erzählen über ihren Zustand oft die unglaublichsten Geschichten. Man muss ihnen nur zuhören können. Und natürlich ihre Sprache verstehen. Forensikerin Eva Scheurer und ihre Kollegen beherrschen sie, lernen aber auch dauernd hinzu. Denn keine Ausdrucksweise gleicht der anderen, da auch Tote als Individuen ernstgenommen werden wollen.
Hartnäckige Suche nach dem Todesgrund
Kein Körperteil, der von der Spurensucherin nicht inspiziert würde. Stets mit einem heiligen Vorsatz: "Wir müssen zunächst völlig wertfrei vorgehen, ohne vorgefasste Meinung", verrät Eva Scheurer. "Würden wir gleich zu Beginn nach etwas Bestimmtem suchen, könnten wir andere wichtige Hinweise übersehen. Wir suchen, wir sammeln, und zum Schluss fügen wir alles zu einem Bild zusammen." So wird dem Toten die Schädeldecke aufgemacht, für das Labor Körpersäfte oder Maden aus dem Gewebe sicherstellt, Material unter den Fingernägeln geborgen, Fasern vom Körper gepflückt, DNA- und Haarproben genommen. Aber auch Knochenbrüche, Stichkanäle, Einschüsse, Platzwunden, Quetschungen, Verfärbungen und Schürfungen am Körper werden eingehend studiert, festgehalten und besprochen.
Wichtigstes Ziel ist die Spurensicherung, und dann natürlich die Feststellung der Todeszeit, Todesart und Todesursache. Kein Detail, das nicht wichtig wäre. Jede Untersuchung, so versichert Eva Scheurer, verlaufe strukturiert, streng nach Schema. Beschauen, aufzeichnen, fotografieren, diskutieren, folgern. Am Ende steht immer das Verfassen eines Gutachtens. Denn ohne Beweise, ohne Belege wird jeder Befund wertlos. Ist die Untersuchung am Körper beendet, legen die Autopsie-Detektive alle entnommenen Teile wieder in die Leiche zurück. Sie wird zugenäht und zurechtgemacht, sie soll in Würde bestattet werden können.
Das tägliche Abschiednehmen vom Leben
Wer viel mit Toten zu tun hat, entwickelt zum Tod eine besondere Beziehung. Vor allem in der Konsumgesellschaft, die reflexartig verdrängt, was – ausserhalb der Unterhaltungsindustrie – mit Endlichkeit und Sterben zu tun hat. Nicht so Eva Scheurer. Ihr Beruf, sagt sie, habe ohne Zweifel den Umgang mit dem Tod geprägt: "Der Tod gehört zum Leben; er ist ein Teil davon und immer mit Abschied verbunden:" Eine Erkenntnis, welche die Ärztin verinnerlicht hat, selbst für den Alltag. Schliesst sie morgens die Haustüre hinter sich, nimmt sie richtig Abschied. Ihr sei bewusst, vielleicht nicht mehr heimkehren, vielleicht nie mehr Hans, ihren Gatten, ein Informatiker, in die Arme schliessen zu können. Die Lebenszeit sei begrenzt, der Tod allgegenwärtig, und deshalb versuche sie, mit sich und ihrer Umgebung im Reinen zu sein.
Was aber fasziniert eine Medizinerin an diesem Beruf, der sie unablässig mit Gewalt und Unglück, Leid, Leblosigkeit, Zerfall, üblen Gerüchen und hässlichen Anblicken konfrontiert? Eva Scheurer zögert keinen Augenblick mit der Antwort. Sie unterstreicht ihre präzisen Sätze mit sanften Handbewegungen, und sie gibt mir in homöopathischen Dosen zu verstehen, dass die Frage viel zu einfach gestellt ist. Weil sie mit der Fokussierung auf die Toten nur einen Aspekt ihrer verschiedenen Aufgaben als Direktorin am Institut, als Dozentin an der Universität, als Basels Gerichtsärztin und als leitende Forensikerin an den Leichenfundstellen anschneidet. Als Frau und Wissenschaftlerin sind ihr die Überlebenden eines Angriffs oder Unfalls fast noch wichtiger. Warum, wird sie später begründen.
Die Lebensstationen zur Todeserforschung
Ärztin zu werden, sei 1990 nach ihrer Matura am Gymnasium von Oberwil keineswegs ihr dringlichster Wunsch gewesen, erinnert sich die im benachbarten Bottmingen aufgewachsene Enkelin eines Apothekers. Eigentlich habe sie damals Biologie und Chemie mehr interessiert, ganz wie ihr Vater übrigens, der dann aber Betriebswirtschafter statt Chemiker wurde.
An der Medizin interessierte sie in erster Linie die Funktionen des Menschenkörpers. In diesem sah sie ein faszinierendes Wunderwerk. "Wie funktioniert der Körper? Was hängt alles zusammen? Und was ist, wenn etwas nicht mehr funktioniert?" Die Methoden, um Fehlfunktionen zu beheben, also Krankheiten zu heilen, interessierte sie erst an zweiter Stelle. Was Studentin Scheurer auch noch wusste: Sie wollte weg aus der Region Basel, hinaus ins faszinierende Unbekannte. Und sie wollte lieber einer interessanten Arbeit in einem guten Team nachgehen, wenn möglich auch ihr Wissen weitergeben, als sich nach Sprungbrettern für den nächsten Karrieresprung umzusehen.
Trotz oder vielleicht gerade wegen dieser Haltung landete die offensichtlich Vielbegabte zügig in der Chefetage. Zunächst aber studierte sie in Lausanne und Bern Humanmedizin, wurde Fachärztin für Rechtsmedizin, studierte Physik, packte 2008 die Chance, ins österreichische Graz auszuwandern, um dort drei Jahre später die Leitung und den Ausbau des Ludwig Boltzmann Instituts für Klinisch-Forensische Bildgebung zu übernehmen. In Graz förderte die Baselbieterin die Entwicklung der Forschung "am lebendigen Gewaltopfer", wie sie erklärt. So vertiefte sie jene Leidenschaft, aus der sie heute in Basel am meisten Kraft schöpft: Die klinische Rechtsmedizin, in der sie lebenden Opfern zu ihrem Recht verhelfen kann – durch das Herausfinden der Wahrheit mit Hilfe der Forensik.
Misshandelte Kinder erfahren mehr Gerechtigkeit
Eine Wahrheit, die immer wieder im Körperinneren des Opfers zu finden ist, weil äussere Verletzungen zu wenig verraten oder gar fehlen. Eine Wahrheit auch, die nur mit Assoziationsvermögen, interdisziplinärem Wissen und zugelassener Intuition gefunden werden kann. Konkrete Beispiele? "Kindesmisshandlungen", antwortet die Institutsleiterin umgehend. "Weshalb hat ein dreimonatiges Baby 40 Knochenbrüche? Wir hinterfragten: Was ist genau geschehen? Wann sind diese Brüche aufgetreten? Und wie? Während wir feststellen, wann und wodurch die Knochenbrüche entstanden sind, ermittelt die Polizei, wer wann das Kind betreut hat. So kann man schauen, wer möglicherweise für die Verletzungen verantwortlich war."
Geprüft werden auch viele zugewiesene Sexualdelikte. Wurde eine Frau tatsächlich vergewaltigt? Wenn ja, von wem? Wie, und wo? Das Institut für Rechtsmedizin betreut, befragt, untersucht die traumatisierten Frauen gemeinsam mit dem Frauenspital. Die Forensik, stets weiterentwickelt, bringt neue Erkenntnisse, eliminiert Zweifel, schafft Klarheit. Plötzlich sind fälschlicherweise Verdächtigte entlastet. Und die wahren Täter können beweiskräftig überführt und verurteilt werden.
Vom Ernstnehmen vergewaltigter Frauen
Untersuchungen an lebendigen Gewaltopfern sind in der Rechtsmedizin ein recht neuer Zweig, nicht älter als 20 Jahre, heute aber stetig zunehmend, erklärt die Medizinerin. Vorher, in der von Männern dominierten Gerichtsmedizin, sind schwere Straftaten wie Vergewaltigungen von Frauen- und Kindesmisshandlungen fraglos zu wenig thematisiert worden. Unterdessen haben sich die Frauen ihre Rechte erkämpft. Dies begann auch den Blickwinkel in der Rechtsmedizin zu verändern; Frauen und Kindern wird heute zunehmend mehr Aufmerksamkeit geschenkt.
Als emanzipierte Frau spürt Eva Scheurer die dringende Notwendigkeit, misshandelten Kindern und Frauen zu ihrem Recht zu verhelfen. "Dafür müssen wir für die Justiz klar Fragen beantworten können", sagt sie mit entschlossenem Gesichtsausdruck. Er verrät auch die Menschenrechtlerin in ihr. Und vielleicht auch die Weltbürgerin. Wenn in Mexico 43 Studierende zum Verschwinden gebracht werden, in Argentinien der unbestechliche Staatsanwalt Alberto Nisman jählings stirbt, drei mysteriöse Flugzeugabstürze Hunderte von Toten fordern oder Kollegen zur Identifizierung Ermordeter in aller Welt menschliche Überreste aus Massengräbern bergen, so beschäftigt sie das – nicht nur als Forensikerin, sondern auch als Zeitgenossin.
Sextäter oder Ungeheuer am Steuer entlarvt
Die Suche nach der Wahrheit im Dienste der Öffentlichkeit wird vom Institut für Rechtsmedizin aber auch in weniger spektakulär scheinenden Gebieten betrieben. Sein Einfluss reicht bis in die Schlafzimmer, Bars, illegalen Labors oder Hanfplantagen – und in den Strassenverkehr. Eva Scheurers Team kann im Auftrag des Strassenverkehrsamts via Analysen von Blut, Haaren und Urin herausfinden, ob ein Autoraser unter dem Einfluss von Drogen, Alkohol oder Medikamenten Mitmenschen gefährdete.
Mit seinem Gutachten zur Fahr-Eignung kann das Institut Unfallverursachern oder nicht mehr fahrfähigen Personen den Führerschein entziehen lassen. Drückt sich ein Mann vor der Vaterschaft oder wird ihm eine Sex-Affäre mit Folgen angedichtet, hilft das Institut den Tatsachen rasch auf die Sprünge – mit DNA-Analysen und Abstammungsgutachten.
Auch so wird klar: Die Fortschritte der forensischen Wissenschaften und ihrer immer ausgeklügelteren Techniken haben uns Menschen durchsichtiger gemacht und zahlreiche Geheimnisse unseres Körpers gelüftet. Und sie bringen unterdessen auch Licht in die schrecklichsten Verbrechen, welche früher ungesühnt im Dunklen geblieben wären – und auch in den Rechtsstaaten nicht wenige unschuldige Menschen jahrelang hinter Gitter oder in die Todeszelle brachten. Sie mit Hilfe der Rechtsmedizin zu befreien und die wahren Täter hinter Schloss und Riegel zu bringen, entlastet nicht nur die Strafbehörden. Es befreit uns alle, zu wissen, dass immer weniger Unschuldige wegen Mord, Totschlag, Vergewaltigung, Kindesmisshandlung oder eines falsch beurteilten Verkehrsdelikts einen Teil ihrer Lebenszeit im Gefängnis verlieren müssen.
Kein Sparen auf Kosten der Gewaltopfer-Aufklärung
An Arbeit wird es dem Institut auch in Zukunft nicht fehlen. Im Gegenteil, meint Dozentin Scheurer, die mit ihren Vorlesungen Studierende an der Universität für die Rechtsmedizin zu begeistern versucht. Mehr zu tun sei etwa bei der Aufarbeitung der Selbsttötungen. Deren Zahl steigt, auch weil die Bevölkerung älter wird und alte Menschen häufiger selbstbestimmt aus dem Leben scheiden möchten.
Selbst beim Tod der Sterbewilligen aus dem In- und Ausland, die durch professionelle Freitod-Organisationen zur Erfüllung ihres Sterbewunsches unterstützt werden, muss das Institut gleich intensiv erforschen wie die spontanen oder zweifelhaften Suizide. Und warum? "Zur Wahrung des Gesetzes – dass nämlich die Urteilsfähigkeit gegeben sein muss –, aber auch zum Schutz aller Beteiligten vor einer nachträglichen Anschuldigung," begründet sie. Doch auch sonst sieht sich das Institut immer wieder mit neuen Aufgaben konfrontiert. Die Rechtsmedizinerin kann schnell ein Beispiel nennen: "Wir müssen uns heute viel mehr wie früher mit Kindern und Jugendlichen befassen, die Opfer von Gewalt werden."
Beunruhigt blickt Eva Scheurer auch über die Landesgrenzen, wo in Deutschland die Rechtsmedizin den Attacken sparwütiger Entscheidungsträger ausgesetzt ist. Die Unsitte etwa, Laboruntersuchungen für ein paar Euro weniger ausserhalb des Hauses machen zu müssen, münde in ein schlechtes Gesamtergebnis. Insbesondere leide die Teamarbeit unter derart pfuschig durchdachten Spar-Aktionen, und die notwendigen Besprechungen zwischen den verschiedenen Spezialisten würden so nur sinnlos erschwert. "Die interdisziplinäre Arbeit muss unbedingt bewahrt werden. Wir – und damit schliesse ich die Bevölkerung mit ein – , wir profitieren immer von der eingespielten Teamarbeit: Ohne das gemeinsame Abwägen der Fälle, ohne das gemeinsame Besprechen eines Befunds mit den daraus resultierenden Inputs hätten wir weit weniger Erfolg!"
Das Institut der Toten hat Ziele für die Lebenden
Ist es ein Anflug von Zorn, der gerade in den ohnehin hellen Augen der Direktorin aufblitzt? Oder ist es einfach der unbeugsame Wille einer von ihrer Mission überzeugten Frau? Einer Kriminalärztin, die ihr Team durch alle Böden verteidigt und das Institut für Rechtsmedizin Basel vorwärtsbringen will – mit fruchtbaren Innovationen, neuen Methoden und neuen Techniken? Sofern sie natürlich Sinn machen – und der noch besseren Aufklärung der Gewalt an lebenden Mitmenschen oder aller mysteriös verstorbener Zeitgenossen dienen.
Das Potential ist gross, die Erforschung molekularer Informationen macht Riesenfortschritte. Und die Methoden, den genetischen Abdruck eines Täters oder Opfers zu entschlüsseln, lassen immer schnellere, immer ausgefeiltere Ergebnise zu. Bereits wird in der Wissenschaft davon geträumt, via die DNA-Analyse eines Bluttropfens Gesichter erkennen zu können. Doch in Basel stehen vorderhand andere Prioritäten im Vordergrund. Die Sicherung der aktuellen Dienstleistungen zum Beispiel.
Noch bessere Dienstleistungs-Qualität
Klar, sagt Institut-Chefin Scheurer ungeschminkt, klar sei ihr jede Unterstützung willkommen, die ihrem Haus diene. Denn: "Ein Institut wie unseres wird trotz seiner offenen Dienstleistungen nie selbsttragend sein." Schön wäre dennoch der längst versprochene Umzug in ein grösseres Gebäude. Aber das ist eben ein aufwändiges Projekt und dauert seine Zeit. Ungleich wichtiger seien ihr aber die Sicherung und der Ausbau der Dienstleistungs-Qualität und das Verständnis der Politik und des zuständigen Gesundheitsdepartements für die Förderung von Wissenschaft als zukunftsträchtiger Innovation. Was natürlich das Lockermachen weiterer Geldmittel erfordert.
Aber das sei es wert, sagt Eva Scheurer mit ihrem breitesten Lächeln. "Wissen sie, ich arbeite gerne hier in Basel. Ich habe Freude an der Arbeit, ich habe ein tolles Umfeld und ein gutes Team." Und wieder strahlen ihre Augen. So, als gebe es auf dieser Welt keine Gewalt, kein Sterben, keinen Tod – nur das letztlich Unbegreifliche, das uns nach unserem letzten Atemzug alle ereilt.
3. März 2015
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