Misstrauen Sie uns Medienschaffenden!
Von RUEDI SUTER
Misstrauen Sie Ihrer Wahrnehmung! Glauben Sie ja nicht, dank der Medien seien Sie informiert. Seine erschütterndsten Fotos, sagte der bekannte Kriegsfotograf James Nachtwey im Filmporträt „War Photographer“ des Schweizers Christian Frei kürzlich im Sender "3sat", würden von den Medien gar nie gezeigt. Weil die Inserenten ihre Werbung nicht neben zerstückelten oder verhungernden oder im Dreck vegetierenden Menschen platziert haben wollten und Redaktionen ihre Leserschaft „schonen“ möchten. Das unvorstellbare Elend der Anderen wird verdrängt – und durch Seifenopern und künstliche Events oder Stories über Reiche, Promis und Schöne ersetzt.
Gleichzeitig verkommen wir Medienleute zusehends zu Modeleuten. Wir informieren über das, was gerade Tagesgespräch ist. Tagesgespräch ist das, was an Medienkonferenzen jeweils zu ein paar Themen abgesondert und nachher wiedergekäut wird. Oder das, was uns gerade ins Auge sticht: Der Kannibale oder die "Oscar"-Verleihung, die Marslandung, der neuste Flachbildschirm oder ein Music Star, ein Gefangenenaustausch, der Tennis-Sieger, ein Flugzeugcrash, eine Umsatzsteigerung oder die Vogelgrippe, ein Selbstmordattentat, die Präsidentschaftsvorwahl, der Computerwurm undsoweiterundsofort.
Darüber informieren wir. Immer kürzer, immer atemloser. Weil Sie, liebe Medienkonsumierende, es ja so wollen. Oder etwa nicht? Aber doch - singen unsere Verleger im Chor mit ihren Marketingberatern. Und wir Medienschaffende - vom "Blick" über Radio und Fernsehen bis zur "NZZ" - singen ausnahmslos mit, sonst würden wir unseren Beruf an den Nagel hängen. Doch was man liebt, hängt man nicht. Da üben wir uns lieber in der Pflege von Banalitäten, Schein-Sensationen und der Kunst der Oberflächen-Veredelung. Auf Kosten der Differenzierung, des Tiefgangs und Hintergrunds. Oder wollen Sie uns etwa bei seriösen Recherchen finanziell unter die Arme greifen? Aufgepasst, das kostet! Mit ein Grund, weshalb die aufwändige, gewissenhaft recherchierte, alle Aspekte einbeziehende Berichterstattung im Koma liegt.
So bleibt uns nur noch der Anstand, ehrlich zu sein: Fundierter Journalismus hat heute Seltenheitswert. Gäbe es nicht Kolleg(inn)en, die wie Fotograf Nachtwey ihr Herzblut und Eigenmittel in Recherchen stecken würden, sähe es noch trister aus. Vor allem, wenn es um die vielen existenziellen Themen geht, die zwar ausserhalb des medialen Mode-Eintopfs liegen, Nicht desto trotz aber tagtäglich drei Viertel der Menschheit bekümmern: Umweltzerstörung, Hunger, Arbeitslosigkeit, Krieg und Krankheiten, Flucht und Folter. Es gibt viele existenzielle Themen, über die wir nichts berichten können oder mögen.
Dies schlägt uns einmal mehr mit ihrem "Ranking der anderen Art" auch die Organisation "Ärzte ohne Grenzen" um die Ohren. Kürzlich nannte sie uns Medienschaffenden aktuelle humanitäre Dauerkatastrophen, die wir weitgehend ignorieren: Die eskalierenden Flüchtlingskrisen und Brutalitäten gegen die Zivilbevölkerungen, die chronischen Konflikte mit zahlreichen Toten, seelisch und körperlich Verwundeten in Kolumbien, Tschetschenien, Burundi und der Demokratischen Republik Kongo, weiter die ständig wachsende Zahl von Malaria- und Aidstoten, die anhaltenden Konflikte in Nordkorea und Somalia, der Krieg in der Elfenbeinküste und der verweigerten Zugang zu lebensrettenden Medikamenten in armen Ländern.
Selbstverständlich, haben Sie dank uns schon einmal darüber gelesen, gehört oder ferngesehen. Doch wie vertieft waren diese Informationen im Vergleich zur Tragweite für die betroffenen Menschen? Oder: Was wissen Sie eigentlich über die neue Sklaverei, die Ausrottung der Naturvölker und die tägliche Zerstörung intakter Landschaften, der Urwälder, der Meere durch jene, die für uns Konsument(inn)en die Rohstoffe beschaffen? Wenn Sie nichts darüber wissen, mag das damit zu tun haben, dass Sie jene Kakerlake mehr fasziniert, die der Dame im künstlichen TV-Abenteuer "Holt mich hier raus - Ich bin ein Star!" über den blanken Prachtsbusen krabbelt.
Es mag aber auch mit uns Medienschaffenden zu tun haben: Weil wir oft kein Wissen mehr, sondern nur noch Illusionen, Ahnungen oder Halbwissen vermitteln. Auch wenn wir das so gar nicht wollen. Wir bitten um Nachsicht - und Vorsicht: Misstrauen Sie uns! Und vielleicht auch ein bisschen sich selbst. Das wahre Leben ist anders.
7. Februar 2004
"Genötigt, nachzudenken"
Ich habe den leisen Verdacht, ein grösserer Teil unserer Zeitgenossen will gar nicht anders informiert werden: Man müsste vielleicht das eigene Weltbild korrigieren und ist eventuell noch genötigt, über diverse Realitäten selbst nachzudenken. Die Medien-Macher wird’s freuen.
Bruno Heuberger, Oberwil