Werdet politisch – ihr seid es schon lange!
Gerade einmal 45,1 Prozent aller Wahlberechtigten nahmen vor vier Jahren an den nationalen Wahlen teil – also nicht einmal die Hälfte derjenigen, die in der Schweiz wählen dürfen.
Noch krasser ist aber, dass sich seit 1919 die Wahlbeteiligung quasi halbiert hat. Während damals vier von fünf Berechtigten an die Urne gingen, lassen es heute viele bleiben. Obwohl heute im Unterschied zu früher der Gang zum nächstbesten Briefkasten reichen würde.
Es sind bedenkliche Zahlen. Geht der Trend so weiter, frage ich mich: Was bedeutet das für unsere Demokratie? Wenn 3,3 Millionen Menschen nicht mitbestimmen dürfen und von den anderen 5,5 Millionen nur 2,4 Millionen Menschen ihr Recht nutzen?
Wir müssen verständlicher werden, wenn wir die Menschen weiterhin für unsere Demokratie begeistern wollen.
Noch funktioniert die Demokratie. Es wählen jedoch nur wenige für viele. Mich macht das ziemlich nervös. Ich mache mir Sorgen. Wenn immer weniger Menschen sich darum kümmern, wer sie in den Parlamenten vertritt, dann werden die Entscheide doch langfristig weniger getragen. Es entsteht diese "Wir, das Volk"- gegen "Ihr, die Politik"-Stimmung.
Genau diese Wut und Unzufriedenheit haben das Potential, auch jene Menschen zu beeinflussen, die wählen. Oder sie führen zu Wut-Wahlen. Und wie wenig Wut in den Parlamenten hilft, gute Lösungen zu finden, lege ich gerne ein andermal dar.
Sicher, die Politik trägt selbst stark zum Vertrauensverlust bei. Da bin ich selbstkritisch und lege es auch allen anderen Parteien ans Herzen: Wir müssen verständlicher werden, wenn wir die Menschen weiterhin für unsere Demokratie begeistern wollen. I get it, ich finde es manchmal auch langweilig oder stur und engstirnig. Und ja, das muss besser werden.
Aber Achtung: Nichts macht mich wütender als Menschen, die mir erklären, sie seien nicht so politisch. Nicht abzustimmen, weil man das jemand anderem überlässt, ist zwar ein politischer Akt. Aber die Aussage, dass einen Politik halt nicht so interessiert oder nicht so betrifft, macht mich madig. Zu denken, dass Politik nur in den Parteien geschieht und von Leuten betrieben wird, die im Elfenbeinturm unsere Agenden schmieden – ist falsch.
Politik geschieht nicht nur hinter verschlossenen Türen an irgendwelchen Apéros.
Politik geschieht nicht nur hinter verschlossenen Türen an irgendwelchen Apéros. Politik ist überall. Vereine sind politisch, wenn die Mitglieder demokratisch gegen höhere Beiträge stimmen. Dein Arbeitsverhältnis ist politisch, weil Regeln vorgegeben sind, die du einhalten musst. Wenn du dir Sorgen machst um den Winter in der Schweiz oder um die Tigermücken, dann ist das politisch. Und es ist verantwortungslos, ausgerechnet jetzt apolitisch sein zu wollen, da eine millionenschwere Hetzkampagne die Stimmung in der Schweiz aufheizt.
Es braucht dich, wenn wir uns als Land entscheiden, wohin wir gehen und wie wir die Herausforderungen unserer Zeit angehen. Wir können einstehen für eine respektvolle Politik mit unterschiedlichen Haltungen, aber ohne Hetze, Diskriminierung und billigen Stereotypen. Gemeinsam – von der FDP/LDP bis zur BastA!
Niemand muss politisch werden: Es braucht nur die Einsicht, dass man es schon ist. Hat man das erst einmal verstanden, ist der Weg mit dem Wahlcouvert zum Briefkasten gar nicht mehr so weit.
Diese Woche kommen sie, die Wahlcouverts. Überlegt euch, für welche Werte ihr einsteht. Entscheidet euch mithilfe von Smartvote oder durch Gespräche im Verein für vier Personen oder eine Partei. Habt eine Meinung und steht für diese ein, aber seid euch auch bewusst, was für Konsequenzen eure Wahl hat.
Schottet euch nicht ab, wenn die Schweiz ihr Parlament für die nächsten vier Jahre wählt. Sondern macht mit und nutzt eure Rechte zur Mitbestimmung.
25. September 2023
"Mit den falschen Dingen radikal aufhören"
Der Kollaps einer Gesellschaft beginnt laut dem russisch-amerikanischen Autor Dmitry Orlov mit der Erosion des Vertrauens in eine bessere Zukunft und erfolgt in fünf Stufen: 1. finanzieller … , 2. kommerzieller ..., 3. politischer ..., 4. sozialer ... und 5. kultureller Zusammenbruch. Seit ich stimm- und wahlberechtigt bin (seit rund 60 Jahren), habe ich bis vor Kurzem sozusagen keine Abstimmung und keine Wahl verpasst: Jetzt tue ich das nicht mehr. Weil die parlamentarische Parteiendemokratie es gemäss meiner Erfahrung definitiv nicht bringen kann. Aus Gründen, die auch in diesem extrem gut gemeinten Aufruf genannt sind.
Einer meiner Schlüsselsätze dazu lautet: Damit bei einem maroden System eine für alle günstig wirksame Veränderung erreicht werden kann, braucht es gemeinsam den Mut, mit den falschen Dingen radikal aufzuhören. Erst dann wird Raum frei für grundlegend und wahrhaftig zukunftsfähig Neues.
Diesen Beitrag schreibe ich als ein Politiker, der seit Jahren hoch engagiert im System der parlamentarischen Parteiendemokratie mitmacht. Einem System, bei dem die Mehrheit recht hat: Und das auch dann, wenn es nicht das Richtige ist. In einem solchen System wird der Machtkampf – und dies nicht nur bei den Wahlen – zur Handlungsgrundlage. In der Sache kommen kaum Entscheidungen zustande, die nachhaltig zukunftsfähige alles und alle umfassen: Dafür engagiere ich mich als Botschafter für eine neue Politik.
Ueli Keller, Allschwil
"Nicht zuletzt für meine Kinder!"
Ein Plädoyer für das Wahlrecht! Ich unterstütze Jo Vergeat dabei! Ich kann zwar erst seit Kurzem wählen (da frisch eingebürgert) und empfinde es als meine Pflicht mitzubestimmen, nicht zuletzt für meine Kinder!
Marina Fink, Zunzgen
"Wenn das Volk das Herrschen nicht will"
Nicht nur die Politik trägt zum Vertrauensverlust bei, sondern auch die Medien (soweit diese heute überhaupt noch an die Menschen gelangen), aber auch die Verwaltung (die vermutlich mehr Einfluss als die Regierung hat) und durchaus auch die Justiz. Was wählt man denn? Fotografierte Köpfe (möglichst schöner, gut gekleideter Menschen) und Schlagworte ("Gerechtigkeit", "Realismus", "Bürokratieabbau", "Gleichstellung", "Neutralität, Sicherheit, Freiheit", "Perspektiven statt Utopien", "Krankenkassenprämien" etc.). Alles gute Dinge, wie vor 4, 8, 12 Jahren – noch immer mehr oder weniger dasselbe. Weil viel proklamiert, aber wenig umgesetzt wird – werden kann; aber schön tönt. Und trotzdem – Jo Vergeat hat natürlich völlig recht. Eine Demokratie – übersetzt etwa "Volksherrschaft" – kann nicht funktionieren, wenn das Volk das Herrschen nicht will; auch nicht, wenn es die damit verbundene Verantwortung nicht tragen kann. Aktuell herrscht oft mehr der "Bauch" als der "Kopf" – Politik nicht mit Fakten, sondern über Emotionen. Weil Fakten voraussetzen, dass man sich informiert, denkt und erst dann entscheidet? Weil das zu anstrengend ist?
Peter Waldner, Basel