Erinnern
Mitte Juni habe ich auf einer Reise nach Berlin den Geburtsort meiner Grossmutter besucht. Es war ein Ausflug in eine Welt, die mir meine Grossmama so oft zu schildern versuchte und die sich mir doch nie ganz erschloss.
Sie kam 1932 in Neudamm, Deutschland, auf die Welt und war Tochter eines wohlhabenden Fabrik-Inhabers. Die Familie lebte dort bis kurz vor Kriegsende 1945.
Der Zweite Weltkrieg hatte bis dahin schon unendlich viel Leid verursacht, die Region Pommern aber verschont. Die Armee von Hitler war geschwächt, besetzt mit Kindern und Alten und auf dem Rückzug nach Berlin. Von Frankreich her kämpften die Alliierten, und aus dem Osten drängte die Rote Armee. Ebendiese rückte im Februar 1945 nach Neudamm vor.
Die Ebene, wo heute Mohn und Kreuzblumen blühen, bringt noch immer Kriegsüberreste und Leichen hervor.
Meine Grossmama war zwölf Jahre alt, ihre Schwester acht. Mein Urgrossvater wurde schon vor dem Heranrücken der Roten Armee gefangen genommen: Er half jüdischen und anderen unterdrückten Mitmenschen. Die Rote Armee verwüstete auf ihrem Feldzug nach Berlin alles, was ihr in den Weg kam. Der Marktplatz von Neudamm wurde komplett niedergebrannt, und die Mädchen und Frauen wurden misshandelt, geschändet und vergewaltigt.
Meine Grossmama, ihre kleine Schwester, ihre Mutter und die blinde Tante flüchteten mit einem Leiterwagen über die Oder in Richtung Berlin. Was ihr dabei alles begegnete und was sie gesehen hat, sind Bilder, die sie nie mehr vergass. Darüber hat sie nur wenig gesprochen. Die Rote Armee rückte bis zu den Seelower Höhen vor. Dort begab sich eine ihrer grössten Schlachten gegen die Armee des Deutschen Reichs. Mehrere Zehntausend Soldaten kamen während dieser sinnlosen Schlacht zur Verteidigung Berlins ums Leben, auf beiden Seiten.
Die Ebene, wo heute Mohn und Kreuzblumen blühen, bringt noch immer Kriegsüberreste und Leichen hervor. Meine Grossmama flüchtete nach Buckow in der Märkischen Schweiz. Das Dorf liegt in einer Senke und wurde von den eilig nach Berlin rückenden sowjetischen Truppen links liegen gelassen. In Buckow blieb meine Grossmama und pendelte von dort aus nach Ostberlin, um den Beruf der Kindergärtnerin zu erlernen. Kurz vor dem Mauerbau flüchtete sie nach Schweden und lernte dort meinen Grossvater kennen. Mit ihm kam sie in die Schweiz. Ihre Schwester folgte ihr einige Jahre später.
Dębno wirkte auf mich wie ein Ort ohne Seele.
Nach Neudamm konnte sie nie zurückkehren. Nach dem Krieg wurde dieser Teil von Vorpommern Polen zugeteilt und heisst heute Dębno. Heute noch erkennt man die Spuren des Kriegs, aber auch diejenigen der DDR. Schon in Buckow sind diese spürbar. Dębno aber wirkte auf mich wie ein Ort ohne Seele. Es leben zwar Menschen dort, aber es scheint, als wäre dem Ort die Geschichte geraubt worden. Kaum jemand ist nach dem Krieg nach Pommern zurückgekehrt. Stattdessen zogen polnische Familien ein und besiedeln heute eine Stadt, die vor 100 Jahren noch ganz anders aussah.
Meine Grossmutter hat im Krieg alles verloren, und ihre hart erarbeitete Ausbildung zur Kindergärtnerin wurde in der Schweiz nicht anerkannt. Es war keine Ausbildung des Westens. So hat sie ein Leben lang weiter gekrampft. Putzte nachts die Labore der Roche und war am Tag Mutter, Frau, Grossmutter, und holte am Ende auch ihre kranke Mutter aus der DDR nach Basel.
Sie sagte immer: "Man weiss nie, wann der nächste Krieg kommt."
Es sind Geschichten und Schicksale, die sich täglich wiederholen. Sie hat sich wenig beschwert, aber immer war der Krieg und der Schrecken, den sie erlebte, präsent. Im Kinderlied "Maikäfer flieg", das sie uns oft vor dem Schlafen vorsang, ist das eindrücklich zu spüren: "Maikäfer flieg, der Vater ist im Krieg, die Mutter ist im Pommerland, Pommerland ist abgebrannt. Maikäfer flieg." Oder in Momenten im Garten, als sie eine Mirabelle mit Wurm ass, die wir Kinder verschmähten. Sie sagte immer: "Man weiss nie, wann der nächste Krieg kommt."
Als Kind habe ich diese Dinge nicht verstanden. Jetzt fällt es mir leichter. Meine Grossmama hat nie einfach über Menschen geurteilt und hat stets mit allen Flüchtlingen mitgelitten. Die Bilder von den griechischen Flüchtlingsbooten oder aus dem Ukraine-Krieg haben sie erschüttert. Wir dürfen nie vergessen, was für einen schrecklichen Krieg Europa hinter sich hat und was für schlimme Kriege weltweit täglich Tausende Leben zerstören. Denn wir sind heute und hier dafür verantwortlich, den Frieden zu verteidigen. Auch und gerade in Europa!
29. Juli 2024
"Ein Traum"
Konkurrenz und Kampf bis final zu einem blutigen Krieg gehören mehr oder weniger bewusst zur griechisch-römisch und jüdisch-christlich begründeten Raubtier-Zivilisation. Sie prägt mehr oder weniger absichtlich und tiefgreifend in sämtlichen Lebensbereichen die Welt, in der wir leben. Frieden und ein gutes Leben für alle und alles umfassend ist ein Traum, der in einer solchen Welt nicht und nie in Erfüllung gehen kann.
Ueli Keller, Allschwil