© Foto by Claude Giger, www.Picturebale.ch / Daniel Infanger
"Individuell betreut": Alleinerziehende Mutter Reina Rosario, Tochter Alice
"Ich will nie mehr von einem Mann abhängig sein"
Das Basler Projekt "Amie" hilft jungen alleinerziehenden Müttern ohne Berufsausbildung bei der Lehrstellensuche
Von Anna Wegelin
Der Bund will die Armut in der Schweiz durch Reintegration in den Arbeitsmarkt bekämpfen. Doch was ist, wenn der berufliche Einstieg noch nicht einmal erfolgt ist? Das Projekt "Amie" in Basel hilft jungen alleinerziehenden Müttern bei ihrer Lehrstellensuche. Ein persönlicher Blick in die Lebens-Schicksale zweier Kursteilnehmerinnen und alleinerziehender Mütter.
Jenny Schmutz und Reina Rosario sind zwar ganz unterschiedliche Frauen mit ganz ungleichen Biografien. Jenny ist gebürtige Baslerin, strahlt Selbstbewusstsein aus und hat eine Lehrstelle als Bekleidungsgestalterin; Reina stammt aus der Karibik, ist sanftmütig und hofft, dass sie ein Praktikum als Hauswirtschaftspflegerin machen kann. Doch etwas verbindet sie: Sie sind junge alleinerziehende Mütter, vergöttern ihre Kinder und wollen unbedingt einen Beruf lernen – weil es im Leben einer Frau nur diesen einen Weg in die Freiheit und Unabhängigkeit gibt. "Man sollte auf seinen eigenen Beinen stehen", sagt Reina. Und Jenny doppelt nach: "Ich will nie mehr von einem Mann abhängig sein.".
Projektleitung beim Gewerbeverband
Unterstützung auf ihrem steinigen Weg in eine solide und perspektivenreiche Zukunft erhalten die beiden Frauen vom Projekt "Amie – Junge Mütter in Erstausbildung".
"Amie" ist eine öffentlich-private Partnerschaft zwischen der Abteilung Berufsbildung des Gewerbeverbands Basel-Stadt (Projektleitung), der kantonalen Sozialhilfe und dem Basler Frauenverein am Heuberg, der Kindertagesstätten führt. "Amie" begleitet seit dem Sommer 2007 junge, meist alleinerziehende Mütter ab 16 Jahren, die bei der Sozialhilfe oder beim Regionalen Arbeitsvermittlungszentrum RAV gemeldet sind, bei ihrer Lehrstellensuche.
Im Kurs, der von September bis Juni dauert und jeweils am Morgen stattfindet, wenn die Kinder fremdbetreut werden, verbessern die Frauen, die über einen Schulabschluss verfügen müssen, ihre Deutsch- und Mathematikkenntnisse. Sie durchlaufen ein Bewerbungstraining, besuchen einen Theaterkurs, lernen Methoden der Kindererziehung und werden von der "Amie"-Projektleiterin Franziska Reinhard, der Berufsberaterin Marianne Stohler und der Praktikantin Tisha Philip individuell betreut. Die Unterstützung geht weiter bis zum erfolgreichen Lehrabschluss, so zum Beispiel als Pflegehelferin, Kleinkinderzieherin oder Büroassistentin.
"Bis heute gibt es im Kanton Basel-Stadt keine systematische Hilfeleistungen für den Einstieg junger Mütter in eine Erstausbildung", sagt Franziska Reinhard. "Amie" sei ein einmaliges Unterfangen in der Schweiz. In Zürich plane das Schweizerische ArbeiterInnenhilfswerk SAH ein ähnliches Angebot.
Kinder, die dem Leben Sinn geben
Reina (27) lebt mit ihrer kleinen Tochter Aliçe und zwei wohlerzogenen Hunden in einer Drei-Zimmer-Wohnung im Kleinbasel. Aliçes Zimmer ist mit einem Wust farbiger Ballone geschmückt: Die Kleine hat kürzlich ihren ersten Geburtstag gefeiert. Überall stehen saftiggrüne Zimmerpflanzen – "mein Hobby", sagt Reina. An den Wänden hängen Posters mit Sandstrand, Wasserfall und Sonnenuntergang. Der Radio läuft, der riesige Flachbildschirmfernseher ist ausgeschaltet.
Die Mutter zeigt das Foto eines hübschen Jungen: "Das ist mein Sohn Jonathan, elf Jahre alt." Seit vier Monaten dürfe sie ihn nicht mehr sehen, erzählt sie den Tränen nahe. Die Vormundschaftsbehörde habe so entschieden, Jonathans Pflegemutter habe sie schlecht gemacht. "Irgendwann werden wir zueinander finden", meint sie niedergeschlagen. Keine Zeit für Trauerarbeit: Aliçe zerfleddert gerade ihr Fotoalbum. Reina ist gebürtige Dominikanerin und fühlt sich in Basel daheim. Sie sei unzählige Male umgezogen, beginnt sie ihre Lebensgeschichte. Diese Biografie ist derart happig, dass man die kleine, freundliche Frau für ihren Überlebenswillen bewundert.
Mit der Freund, dann die Schwangerschaft
Reina ist bei ihren Grosseltern in der dominikanischen Hauptstadt Santo Domingo aufgewachsen. Ihr Vater war abwesend, ihre Mutter mit ihrem eigenen Leben beschäftigt. Als Reina siebenjährig ist, heiratet ihre Mutter einen Schweizer und zieht mit ihr nach Basel. Dann nimmt das Schreckliche seinen Lauf, das Reina der Journalistin zwar erzählt, aber nicht veröffentlicht haben will, weil es ihr bei der Lehrstellensuche hinderlich sein könnte.
Mit 14 hat Reina ihren ersten Freund: "Das passte meiner Mutter gar nicht." Dann wird sie schwanger mit Jonathan. Sie zieht ins Heim, es geht ihr immer schlechter. Sie nimmt harte Drogen, gibt den Bub weg, geht für eine Entzugstherapie ins Tessin und haut dann nach Italien ab. Im Süden geht es ihr gut: "Ich bin sogar mit dem Mountainbike auf den Gotthard gefahren", erzählt sie stolz. Sie macht ein Kind mit einem einige Jahre älteren Italiener, obwohl sie der Beziehung keine Chance gibt.
Seit drei Jahren lebt Reina – absolut "clean", wie sie betont – mit ihrem Töchterchen wieder in Basel: "Ich habe meinen Sohn Jonathan vermisst." Sie will ihren beiden Liebsten eine gute Mutter sein und eine Ausbildung machen. Heiraten kommt nicht in Frage: "Dann werden die Männer plötzlich so anders." Eine gute Partnerschaft sei, wenn der Mann zu Hause hilft und die Frau ihr eigenes Geld verdient. "Ich will doch nicht eine Sklavin sein!", so die 27-Jährige.
Hausaufgaben statt TV-Abend
Reina hofft, dass sie eine Lehrstelle als Hauswirtschaftspflegerin findet. "Amie" findet sie super: "Ohne den Kurs würde ich es nicht schaffen", meint sie. Nur am Anfang habe sie Mühe gehabt, am Morgen beizeiten aufzustehen. Trotz dieser Unterstützung ist es schwierig für sie, eine Lehrstelle zu finden. Ihr Alter, ihr Migrationshintergrund und ihre Mutterschaft wirken sich im Lehrstellen-Wettbewerb negativ aus.
Doch lässt sie sich dadurch nicht entmutigen: Für sie ist viel wichtiger, dass sie den Rank im Leben gefunden und für sich eine Perspektive entwickelt hat. "Mein Wunsch wäre, die Hotelfachschule zu machen und mindestens ein paar Kinder mehr zu haben", meint sie mit glänzenden Augen. Blauäugig ist sie aber nicht. Wenn sie mit den Hunden draussen gewesen und ihre Tochter abends schlafen gelegt habe, müsse sie haushalten und Hausaufgaben machen, statt sich einen gemütlichen TV-Abend zu gönnen.
Die Mutterschaft an sich sei der erste Wettbewerbsnachteil ihrer Klientinnen, bestätigt Franziska Reinhard. Selbst aufgeschlossene Betriebe fordern eine hundertprozentige Präsenz ihrer Lehrtöchter. Wenn Nachtschichten dazu gehören wie im Gesundheitsbereich, muss für das Kind der Mutter neben der Kindertagesstätte eine zusätzliche Betreuung zu den Randzeiten gefunden werden. Für etwas ältere Mütter wie Reina, die nicht frisch von der Schule kommen, sei es nochmals schwieriger, irgendwo unterzukommen, erklärt die Projektleiterin. Aufgrund der Wirtschaftskrise sei die Konkurrenz unter den Lehrstellensuchenden in diesem Jahr massiv angestiegen. Wer mehr vorzuweisen habe und kinderlos sei, habe von Anfang an die besseren Chancen.
Sie hat es geschafft
Jenny Schmutz (22) hat es trotz dieser mehrfachen Hindernisse geschafft und beginnt im Sommer eine Lehre als Bekleidungsgestalterin. Wir treffen Jenny, eine sorgfältig geschminkte Frau mit adrettem Haarzopf und schwarzrandiger Brille, um die Mittagszeit in einem Café in der Basler Innenstadt. Sie kommt soeben von der Mathestunde mit "Amie" und nervt sich, dass so wenige in den Unterricht gekommen sind. Sie bestellt ein kalorienarmes Cola und zündet die erste Parisienne Amateur an. Sie habe während der Schwangerschaft 25 Kilos zugenommen, erzählt Jenny. Nun sei sie bald wieder auf ihrem ursprünglichen Gewicht.
Diese Frau steht mit beiden Beinen im Leben. Mit 19 wurde sie Mutter, obwohl sie die Pille nahm. Heute wohnt sie mit ihrem dreijährigen Sohn Joshua in einer Drei-Zimmer-Wohnung in Riehen. "Wenn er lacht, geht für mich die Sonne auf", erzählt sie. "Joshua ist alles für mich." Zum guten Glück nicht ganz, möchte man fast sagen: Denn ihre dreijährige Lehre zur Bekleidungsgestalterin will sie unbedingt erfolgreich abschliessen, selbst wenn sie weiss, dass es kein Zuckerschlecken sein wird. "Wenn man etwas will, schafft man es", lautet ihr Wahlspruch. Ihre Willenskraft und Selbstüberzeugung hat sie sich hart erkämpfen müssen. "Ich bin halt abgehärtet, habe viel erlebt", meint sie schulterzuckend.
Es begann mit der Scheidung ihrer Eltern. Die elfjährige Jenny bleibt bei ihrer Mutter. Der Vater zieht aus: "Schlimm." Gewalt daheim habe es nicht gegeben, so die junge Frau, weder zwischen den Eltern noch gegen sie. Nach dem 10. Schuljahr beginnt sie eine Lehre als Goldschmiedin. Drei Monate später bekommt sie das Pfeiffersche Drüsenfieber und gibt auf.
Jenny will kirchlich heiraten
2005 ist ein schlimmes Jahr für sie: Mutters neuer Freund, mit dem sie heute ein sehr gutes Verhältnis habe, zieht ein. "Das war nur noch ‚No Go'", erzählt sie: "Er war der erste Mann in meinem Leben, der Nein sagte." Nein zu ihrem Lebenswandel: kein Job, ständig auf der Gasse mit viel Alkohol und illegalen Drogen. Jenny zieht zu ihrem einige Jahre älteren Freund, den sie zwei Wochen zuvor kennen gelernt hat. Als sie mit Joshua schwanger wird, läuten die Alarmglocken. "Dafür wurde ich nachher ins kalte Wasser geworfen."
Jenny will kirchlich heiraten und Joshua taufen lassen – das sei wie ein Segen, auch wenn man nicht gläubig sei. Doch es gibt Spannungen zwischen ihr und ihrem Freund, der sie aus Eifersucht nicht mehr ausser Haus lässt. Als sie hoch schwanger mit Joshua ist, sagt sie ihrem Freund, sie habe ihn nicht mehr gern: "Wir haben nicht zusammengepasst." Da dreht bei ihm die Sicherung durch … Jennys Redefluss stockt zum ersten und einzigen Mal während des Gesprächs.
Die junge Mutter schwärmt von "Amie", das sie als "eine Art intensive Lehrstellenvorbereitung" bezeichnet. "Alleine hätte ich das alles nicht durchziehen können", sagt sie. Wichtig ist für sie, dass sie auch während der Lehre jederzeit bei "Amie" anklopfen könne. "Ich habe viel Blödsinn gebaut, aber ich habe daraus gelernt", blickt sie auf ihre wilden Jahre vor der Mutterschaft zurück. Jetzt sei ihr Ziel, finanziell unabhängig sein – auch von der Sozialhilfe, für deren Unterstützung sie sich schäme: "Ich bin froh, wenn ich von der Fürsorge weg komme." Sie sei schliesslich jung und habe zwei gesunde Hände und Füsse.
Oft ein instabiles Elternhaus
Jenny und Reina sind Einzelschicksale. Welches sind die Gemeinsamkeiten unter jungen und alleinerziehenden Müttern ohne Berufsausbildung? Die 19 Teilnehmerinnen des laufenden "Amie"-Kurses sind je zur Hälfte Einheimische und Frauen mit Migrationshintergrund. Sie stammen meistens aus der unteren Mittelschicht. Ihr auffälligster gemeinsamer Nenner ist gemäss Franziska Reinhard, dass sie multiple Probleme haben – oftmals ein instabiles Elternhaus, in denen Scheinehen, Missbrauch, Drogen oder Gewalt herrschen.
"Die Frauen haben viel Happiges erlebt und tragen einen schweren Rucksack", erklärt die Projektleiterin. Mutter zu werden, habe ihnen eine neue Perspektive gegeben – hin zu einem selbstbestimmten Leben. Der Wille ihrer Klientinnen, den Einstieg in die Arbeitswelt zu schaffen, sei gross. Den Willen, von der Sozialhilfe loszukommen, hätten jedoch nicht alle gleichermassen: Denn die Angst, nach der Ablösung alles alleine meistern zu müssen, wirke auf Einzelne lähmend. Man müsse deshalb eine Balance finden zwischen Fördern und Fordern, so die "Amie"-Leiterin. Die grösste Herausforderung für die jungen Mütter sei, dass sie während der Lehrzeit den strengen Anforderungen im Alltag einer Einelternfamilie gewachsen seien.
Mehrere Risikofaktoren lauern
Alleinerziehende haben das höchste Risiko, von Sozialhilfeleistungen abhängig zu sein. Sie haben – für Kinder, Trennung, Scheidung – unter anderem höhere Kosten zu tragen, müssen gleichzeitig mehr Betreuungsaufgaben übernehmen und können somit nicht oder nur Teilzeit erwerbstätig sein. Gemäss den aktuellsten Zahlen eidgenössischen Sozialhilfestatistik bezogen im Jahr 2007 31 von 1'000 Personen in der Schweiz Sozialhilfe. Am höchsten ist der Anteil in den Kantonen Basel-Stadt (6,6 Prozent), Neuenburg (6,0 Prozent) und Waadt, (4,7 Prozent), gefolgt von den Kantonen mit grossen Städten Bern, Genf und Zürich. Eine Mehrheit der Unterstützten sind Ausländerinnen und Ausländer. Fast jeder sechste Haushalt mit einem alleinerziehenden Elternteil (16,6 Prozent) bezieht Sozialhilfeleistungen.
Das Armutsrisiko für junge und alleinerziehende Mütter mit Kind und ohne Berufsbildung ist besonders gross. Denn sie laufen auch Gefahr, den Anschluss in die Arbeitswelt zu verpassen. So schreibt die Schweizerische Konferenz für Sozialhilfe (Skos), dass Jugendliche und junge Erwachsene ohne Erstausbildung in besonderem Masse Betreuung und Beratung brauchen: "Denn wenn sie den Anschluss ans Berufsleben verpassen, droht ihnen ein Leben in Abhängigkeit." Vorrangiges Ziel müsse deshalb die berufliche Ausbildung und Eingliederung sein. "Eine gute Ausbildung vermindert das Risiko, von der Sozialhilfe abhängig zu werden", so Skos. Je besser die Ausbildung, desto geringer sei das Sozialhilferisiko.
Hoher Anteil der "working poor"
Spezifische Zahlen zu jungen alleinerziehenden Müttern ohne Berufsausbildung seien ihm nicht bekannt, sagt der Soziologe und Armutsforscher Ueli Mäder aus Basel. Doch stellt auch er fest: "Da kumulieren sich mehrere soziale Benachteiligungen." Alleinerziehende Mütter seien in den unteren Lohnkategorien übervertreten. Ihr Anteil habe sich bei den erwerbstätigen Armen ("working poor") stark erhöht. Dieser werde allerdings "wegdefiniert", denn das Bundesamt für Statistik zähle nur, wer mindestens 90 Prozent erwerbstätig sei: "Die alleinerziehenden Mütter verrichten jedoch auf Grund ihrer Haus- und Betreuungsarbeit nur 50 bis 60 Prozent Lohnarbeit."
So weit denken Jenny Schmutz und Reina Rosario noch gar nicht. Sie setzen erst einmal alles daran, Ausbildung, Familie und Haushalt unter einen Hut zu kriegen. Damit sie eines Tages vielleicht ihren Traumberuf ausüben können. Reina als Hotelfachfrau und Jenny als Polizistin: "Ich war schon immer extrem für Gerechtigkeit."
Die Schweizerische Konferenz für Sozialhilfe (Skos), die zusammen mit dem Hilfswerk Caritas Schweiz eine nationale Strategie zur Bekämpfung der Armut fordert, steht hinter der Wanderausstellung "Im Fall" (www.im-fall.ch) zur Sozialhilfe, die vom 26. April bis 3. Mai in Basel Halt macht.
22. April 2010