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"Nicht zentral gesteuerte Prozesse": Stare in Schwarmformation
Schwarm-Philosophie: Wie Menschen ihre Verhältnisse aushandeln
Eine neue Gesellschaftsform, die auf Kommunikation, Kooperation und Kreativität beruht, zeichnet sich ab
Von Aurel Schmidt
In seinem Buch "Die Weisheit der Vielen" untersucht der amerikanische Schriftsteller James Surowiecki, "warum Gruppen klüger sind als Einzelne". Gezeigt wird auf anregende Weise, wie eine andere, aussichtsreichere, im Zeichen der Kooperation und Kreativität stehende Zukunft aussehen könnte.
Also gut: Warum sollen Gruppen klüger sein als Einzelne, Experten und einsame Entscheidungsträger beziehungsweise straff strukturierte Organisationen mit einer hierarchischen Kommandostruktur? Weil die Mitglieder der Gruppe sich austauschen und unter Umständen streiten, ihr Wissen einbringen, auf ein breit gestütztes, diverses Wissen zurückgreifen und auf diese Weise am Ende fundiertere Beschlüsse fassen können.
Die Gruppe, das Team, die Menge, die Masse fällt im Durchschnitt ein gutes Urteil, meint Surowiecki. Oder mit anderen Worten: "Eine aus klugen und weniger gescheiten Agenten bestehende Gruppe schnitt fast immer besser ab als eine Gruppe, die nur aus klugen Agenten bestand." Drei Menschen gemeinsam sind klüger als der klügste von ihnen allein, sagt ein Sprichwort.
Gruppen, in denen Entscheidungen zustande kommen, bei denen alle Betroffenen beteiligt und alle Beteiligten betroffen sind, werden heute mit dem Begriff "Schwarm" bezeichnet.
Nicht kontrolliert, nicht zentral gesteuert
So gesehen, hat Schwarm-Philosophie mit Informationsverarbeitung, positiver Rückkoppelung und spontaner Selbstorganisation zu tun. Mit Kommunikation im weitesten Sinn also. Ähnlich geht es in der Natur bei Vogel- oder Fischschwärmen oder bei Tierarten, die in Rudeln leben, zu, wo jedes Mitglied sein Wissen an seinen Nachbarn und dieser an den Nächsten weitergibt: zum Wohl aller. Peter Miller, der für "National Geographic" arbeitet, beschreibt diese hoch effiziente, aber nicht gelenkte Verhaltensweise in seinem Buch "Die Intelligenz des Schwarms". Wo liegt das Geheimnis der spontanen Bildung von Mustern und Ordnungen von Populationen? Unter welchen Voraussetzungen treten Störungen auf? Die gewonnenen Erkenntnisse vergleicht Miller mit Verhältnissen in der Gesellschaft der Menschen.
Mit Schwärmen sind keineswegs Kollektive gemeint, sondern nicht kontrollierte beziehungsweise nicht zentral gesteuerte Prozesse: "crowd wisdom", wie der Originaltitel von Surowieckis Buch lautet. Schwärme sind Netzwerk-Phänomene. Sie funktionieren wie Musiker, die jammen, meint der amerikanische Autor Howard Rheingold.
Als Beispiel für ein Schwarm-Vorgehen nennt Surowiecki den Sars-Virus. Wichtig war nicht, wer ihn zuerst entdeckte, sondern dass es durch internationale Kooperation möglich war, viele Erreger auszuschliessen und durch dieses Selektionsverfahren dem Ziel der Bekämpfung der Krankheit in kürzester Zeit näher zu kommen.
Brachliegendes Wissen aggregiert
Unter dem Begriff des Schwarms muss daher der Versuch verstanden werden, das verstreut vorhandene, aber oft brachliegende Wissen schnell zu aggregieren – es fruchtbar zu machen – , um so Informationen zu gewinnen, Kreativität zu fördern und Entscheidungen zu verbessern, wie es der amerikanische Rechtswissenschafter Cass R. Sunstein in seinem Buch "Infotopia" ausdrückt.
Weitere Anwendungen findet die Schwarm-Philosophie zum Beispiel bei Wikis (von denen Wikipedia nur eines ist; ein Wiki ist eine im WorldWideWeb verfügbare Seitensammlung, die von den Benutzern online geändert werden kann). Wikis dienen unter anderem bei internen Umfragen und Abklärungen in Unternehmen. Open Source-Organisationen sind Schwarm-Realisationen. Auch Prognosemärkte, Umfragen im Stil von börsenähnlichen Transaktionen, um Meinungen herauszufinden und Stimmungen zu messen, können als Schwarm-Phänomene interpretiert werden.
Allerdings ist der Konformitätsdruck und sind die Widerstände gegen das Schwarm-Prinzip offenbar enorm gross, was dazu führt, dass sich rasch Cliquenwirtschaften ausbreiten. Das kann – nach Surowiecki – zum Beispiel im Fall einer Börsenblase der Fall sein, wenn alle das Gleiche tun wie alle anderen und es keinen unabhängigen, auf Antagonismen beruhenden Diskurs gegeben hat.
Vertrauen in die Demokratiefähigkeit
Auf diesen Überlegungen beruht Surowieckis Vertrauen in die Demokratiefähigkeit der Menschen. Da mag der Club Helvétique noch lange wettern gegen demokratische Entscheidungen, die seinen Mitgliedern nicht passen. Auf das Ganze gesehen, lässt sich sagen, dass die moderne Schweiz mit ihrem politischen System der direkten Demokratie bisher gut gefahren ist, auch wenn die classe politique (wie bei der Minarett-Abstimmung) oder die classe économique (wie beim Renten-Umwandlungssatz) nicht immer das gleiche will wie die Mehrheit der Menschen.
Demokratische Entscheidungen an der Urne wie in der Schweiz sind daher als genuine Schwarm-Ereignisse zu betrachten. Überhaupt erscheint es, als könne der Schwarm-Begriff als neues Paradigma unserer Zeit verstanden werden.
Ein gesellschaftliches Projekt
Direkt angesprochen ist damit die Übertragung des Schwarm-Gedankens auf die Gesellschaft. Es liegt auf der Hand, dass die Entwicklung der modernen Kommunikationsmittel (wie SmartPhone, Twitter, SMS) die Schwarm-Philosophie und -Praxis in einem unvorstellbaren Mass begünstigt hat.
Howard Rheingold hat in seinem Buch "Smart Mobs: The Next Social Revolution" das Thema aufgegriffen und "the power of the Mobile Many", die Macht der neuen mobilen Massen – des Schwarms –, untersucht, angefangen beim Widerstand gegen die WTO-Konferenz 1999 in Seattle. (Das Buch ist 2002 erschienen, aber noch nicht übersetzt. Was ist los? Schlafen die Verleger?)
Der Protest hat eine Schwarm-Form angenommen. Natürlich kann der Schuss auch hinten hinausgehen, zum Beispiel im Fall von Chaoten und Hooligans, kriminellen beziehungsweise terroristischen Vereinigungen oder wenn destruktive Ideen sich ausbreiten.
Dazu ist zu sagen, dass in solchen Fällen eine kontradiktorische Auseinandersetzung ausgeblieben ist und statt dessen ein verbindlicher Einheitsgedanke dominiert hat. Ausserdem widersprechen die negativen Beispiele in keiner Weise den impliziten Mitteln und Möglichkeiten der widerständigen Organisation. Erschwerend kommt hinzu, dass der Mensch a priori kein altruistisches Wesen ist und dass in kleinen Gruppen die Rücksichtnahme viel grösser ist als in grossen und anonymen, was den konsensuellen Druck erhöht.
Protest und Emanzipation
Trotzdem deutet vieles auf einen Umschwung hin. Das Leben im Schwarm hat nicht nur ein neues Protestpotenzial hervorgebracht, wie die Opposition gegen "Stuttgart 21" zeigt, sondern auch ein neues Lebensgefühl geweckt und einem Emanzipationswillen zum Ausdruck verholfen. Das wird für die Zukunft bestimmend sein.
Die Gesellschaft wandelt sich. Bei Rheingold kann man verfolgen, wie es geschieht. Heute schon kann man sehen, dass die Eliten und die politische Klasse in der digital vernetzten Gesellschaft einen neuen Player bekommen haben, eine Gegenmacht, die sie in Zukunft nicht mehr ignorieren können. Gemeint ist damit sowohl ein zivilgesellschaftliches Projekt wie die flach strukturierte "Multitude" von Michael Hardt und Antonio Negri (die Welt hat kein Zentrum mehr und ist umso schwerer zu steuern) im Sinn einer Antwort auf das vertikal orientierte "Empire" (womit die totale Gesellschaft gemeint ist).
Widerspruch in den Chefetagen
Auch ein grundsätzlich neues Denken hat die Schwarm-Idee hervorgebracht. Eine Anzahl von bestimmten Überlegungen ist damit verbunden. Wissen und Information sind kein alleiniger Besitz mehr, sondern ein zirkulierender, frei zugänglicher Wert. Einer von Surowieckis Vorschlägen lautet, spekulative Ideen zu fördern. Minderheiten-Argumente und divergierende Meinungen sind wichtig, sie müssen konsultiert und in der Entscheidungsfindung berücksichtigt werden, weil sie zum Wohl des Besseren beitragen. Sunstein seinerseits meint sogar, Widerspruch und Dissens müssten zur Pflicht erhoben werden, auch in den Chefetagen, und nicht nur deklamatorisch.
Wo diese Auffassungen auf der Strecke bleiben und Überzeugungen und absolute Ideen sich festkrallen, also keine notwendige Hinterfragung als geistige Lockerungsübung möglich ist, setzen sich sture und schlechte – autoritäre, rechthaberische, von einer Ideologie dominierte – Verhältnisse durch.
Wo sie dagegen Erfolg haben, kann zuversichtlich damit gerechnet werden, dass die Menschen gemeinsam und friedlich untereinander ihr Zusammenleben entscheiden und einrichten.
Bibliografie
James Surowiecki: Die Weisheit der Vielen. Warum Gruppen klüger sind als Einzelne. Taschenbuch bei Goldmann. Fr. 18.90.
Peter Miller: Die Intelligenz des Schwarms. Was wir von Tieren für unser Leben in einer komplexen Welt lernen können. Campus Verlag. F. 31.90.
Cass R. Sunstein: Infotopia. Wie viele Köpfe Wissen produzieren. Suhrkamp Verlag. Fr. 38.90.
22. Oktober 2010