© Foto by Erwin Zbinden / Picturebâle
"Flexibel und mehrgleisig": Treffpunkt "Bar Rouge" in Basel
Der neue Hort der Heimat: Willkommen im Klub-Milieu
Mit neuen Beziehungsformen versuchen Menschen Halt zu finden - und der drohenden Einsamkeit zu entrinnen
Von Elsbeth Tobler
In der individualisierten Welt finden immer mehr Menschen ausserhalb der traditionellen Familie Halt und Heimat: Die Beziehungen werden mehrgleisig, flexibel - und oft auch unverbindlich. Das Mitglied der Netzwerkgesellschaft sucht zunehmend den Schutz einer Gemeinschaft, ohne sich aber dieser unterordnen zu wollen. Familienersatz wird laut Experten vermehrt zu einem Zukunftsmarkt.
Melanie folgt dem Lockruf einer geheimnisvoll pulsierenden Musik. Auch zahlreiche andere junge Menschen strömen zu dem Hochhaus, das weit oben eine Krone aus rotem Licht trägt. Melanies Weg führt hinauf ins 31. Stockwerk. Rote Sofas, roter Boden, rote Wände. Freitagabend, 23 Uhr. In der "Bar Rouge" tummeln sich rund 250 Personen. Daneben locken eine Tanzfläche, Kulturanlässe und ein Musikklub. Das Lokal im Basler Messeturm sei einer der "coolsten Schuppen", sagt Melanie. In bauchfreien Hosen, Minikleidern und bunten T-Shirts tanzen junge Menschen zu House-Rhythmen. Melanie sitzt an der Bar und unterhält sich, so gut es geht. Raus aus dem Alltag, rein ins Vergnügen, ist ihre Devise.
Mehrere Optionen am Wochenende
Die 25-jährige Melanie ist klug und hübsch. Nach einem abgebrochenen Publizistikstudium arbeitet sie heute in der Pharmaindustrie und lebt in einer Wohngemeinschaft. Sie sucht Freundschaft und Inspiration in der Gruppe, will aber zugleich unabhängig sein. "Im Moment keine feste Beziehung, kein fester Rahmen in der Freizeit." Mit diesem Lebensstil liegt sie voll im Trend. Immer mehr Menschen organisieren ihre freie Zeit flexibel und mehrgleisig. Unser soziales Netz, sagen Experten, bilden in Zukunft nicht nur unsere Herkunftsfamilien, sondern vermehrt auch stabile Freundschaften.
Fiel früher der Begriff Netzwerk vorwiegend im beruflichen Umfeld, hört man ihn heute überall. Viele haben "etwas laufen", am liebsten gleich mehrere Optionen an einem Wochenende, in mehreren Städten oder gar international. Sie scheinen Angst davor zu haben, auf sich allein gestellt zu sein. Dieses Unbehagen bekämpfen sie, indem sie gleich verschiedene Beziehungsgeflechte knüpfen. "Man kann diese Bekanntschaften leicht beginnen, dosieren und ebenso einfach beenden", sagt Melanie. Die Kehrseite: "Die Kontakte sind oft oberflächlich." Auf Parties gibt man vor, stets "gut drauf zu sein". Krisen haben draussen zu bleiben. Doch das reicht Melanie nicht immer. "Ich pflege daneben auch einen engeren Kreis, der mein Leben tiefer und erfüllter macht."
Klub-Nestwärme als Dienstleistung
Geborgenheit, so eruierten Sozialforscher des deutschen "Trendletters", ist wesentlich für unsere Lebensqualität. Die moderne Art der Gruppenbildung, "Social Swarming" genannt, verändere die Verhaltensweisen der Gesellschaft. Immer mehr Menschen suchen ausserhalb der Familie Halt und Heimat. Die Zahl der Personen, die ohne eigene Familie oder Partner alt werden, nimmt ständig zu. Da verspricht die Suche nach einem adäquaten Ersatz ein guter Zukunftsmarkt zu werden. Nestwärme und Unterstützung als Dienstleistung, etwa in Klubs, Gesinnungskreisen und Wohngemeinschaften.
Früher, zu Zeiten der Grossfamilie, waren die Menschen automatisch in ein enges gesellschaftliches Gefüge eingebunden. Daneben bildeten Verbände und Vereine ein straffes soziales Netz. Jeder kannte jeden. Auf dem Land sind Turn-, Schützen- und Gesangsvereine nach wie vor Bastionen der Tradition wie in der Stadt etwa die Zünfte. Experten beobachten jedoch eine starke Expansion der so genannten Netzwerkgesellschaft. Damit bezeichnen sie den Teil der Bevölkerung, dessen Leben oder Freizeit zunehmend durch Freundeskreise und lockere Beziehungsgeflechte geprägt wird.
Mehr Individualität - weniger Bindung
Dabei geht es nicht nur um Spass. "In einer stärker individualisierten und globalisierten Gesellschaft mit zunehmender Orientierungslosigkeit steigt das Bedürfnis nach Verankerung", erklärt Thomas Estermann aus Aarau. Der Fachpsychologe (FSP) leitet eine Praxis für lösungsorientierte Therapie und Beratung. Erhöhte Scheidungs- und sinkende Geburtenraten, das hohe Heiratsalter wie auch die zunehmende Mobilität seien Indikatoren für die wachsende Zahl Alleinlebender. Beruf, Arbeit, Aus- und Weiterbildung werden immer wichtiger. Die Individualisierung erhöht die Autonomie und die Eigenverantwortlichkeit, erschwert aber oft die Gründung einer Familie oder dauerhafter Bindungen.
Estermann spricht aus Erfahrung: "Die Zugehörigkeit zu einem sozialen Gefüge ist eine Voraussetzung dafür, dass Menschen Höhen und Tiefen des Lebens bewältigen können." Oder anders ausgedrückt: "Jeder braucht jemanden, für den er wichtig ist." Eine Studie der australischen Flinders University, dieses Jahr erschienen, konstatiert: Freunde sind entscheidender für die emotionale Gesundheit als obligatorische Beziehungen in der Familie. Vor allem im Alter. Die positiven Effekte basieren laut Soziologen auf der gegenseitigen freiwilligen Unterstützung und können die Lebenserwartung sogar um mehr als 20 Prozent erhöhen.
Bindung beim Billard
"Jeder sucht Anerkennung", sagt Estermann. "Diese Quelle der emotionalen Bestätigung muss aber immer wieder von aussen gespeist werden." Sei es in der Familie, Partnerschaft, bei Freunden, im Beruf oder Sport. Ob ausserfamiliäre Bindungen eine stabile Partnerschaft teilweise ersetzen oder zumindest ergänzen können, hänge von ihrer Verbindlichkeit und Verlässlichkeit ab, betont Estermann. "Man ist nicht unbedingt eng miteinander befreundet, nur weil man sich wöchentlich zum Jassen trifft." Drei bis fünf gute Freunde hat der Mensch im Schnitt. Damit Freundschaft wachsen kann, braucht es Anteilnahme, Respekt, Loyalität, Interesse, Mitgefühl, Zeit – und die Bereitschaft, über alles reden zu können. "Das kann man nur mit Menschen, denen man voll vertraut", sagt der Psychologe. Dass Freundschaft in Verantwortlichkeit und Hilfsbereitschaft mündet, ist der Idealfall. Unabhängig davon sei die Interaktion mit anderen Personen eine nicht zu unterschätzende Ressource und ein Lebenskorrektiv, auch ergänzend zur Partnerschaft.
Eduard* verbringt den heutigen Samstagnachmittag im "Basler Billard-Club". Er starrt auf die drei Kugeln. Während er mögliche Stossvarianten mental durchspielt, reibt er die Spitze seines Queues mit Kreide ein. Er setzt an, bricht ab. Der zweite Anlauf. Neun kurze Probestösse, dann zieht er den Queue durch. Der Spielball flitzt über das grüne Tuch. Kurze Bande, lange Bande, erneut kurze Bande und schliesslich Karambolage. Er gewinnt. Die Zuschauer lächeln anerkennend. "Billard ist Wettkampf, Passion, Spass", sagt Eduard bei einem Bier an der Bar. Einmal in der Woche findet der Familienvater im Untergeschoss der St. Alban-Vorstadt 10 das, was viele Männer suchen: Kollegen und Freunde. Hier spielen Lehrer, Malermeister, IT-Fachleute, Anwälte, Ärzte, Kaufleute. "Ämtli" sind nicht sehr begehrt, dafür der kulinarische Mittwochabend. Zum Bedauern des Klubs kommen nur wenige Frauen und kaum junger Nachwuchs.
Zugehörigkeit, Look, Sprach oder Aktion
Das Sozialforschungsinstituts GfS Zürich fand 2003 heraus, dass 41 Prozent der Schweizer – 46 Prozent Männer und 37 Prozent Frauen – in einem Verein oder einer Organisation aktiv sind. Heute spricht man dabei gerne vom "Klub", wobei dieser häufig auf Vereinsbasis geführt wird. In der Schweiz gibt es rund 27 000 Sportklubs mit 3,2 Millionen Mitgliedern, von denen einige in mehreren Klubs vertreten sind. Gefragt sind ausserdem Fun- und Singleklubs, Web-, Kultur- und Serviceklubs sowie "Homing". Letzteres belebt in Freundeskreisen die häusliche Tafel- und Kommunikationskultur neu. Andere Menschen suchen Halt in religiösen Gemeinschaften. Weiter sollen Logen mit ihren Ritualen wieder angesagt sein. Im Gegensatz zum Verein oder Klub entstehen Netzwerke spontan-situativ. Personen aus ganz unterschiedlichen "Szenen" finden sich kurzfristig und ohne weitere Verpflichtung zusammen und gehen danach wieder ihrer Wege. Mobilen und allgegenwärtigen Technologien sei Dank.
Was zieht Menschen überhaupt in eine Gruppe? Bei jungen Leuten beobachtet Estermann vor allem eine starke Identitätssuche, das Verlangen nach Erlebnis und Zugehörigkeit, die sich über einen Look, die Sprache oder Aktionen definiert. Ein Netzwerk ist auch dazu da, gemeinsame Interessen durchzusetzen und Wissenspotenziale zu nutzen. Die Maxime vieler Serviceklubs wie Rotary, Lions, Kiwanis und Zonta sind Engagement und Hilfsbereitschaft im Alltag, die Schaffung beruflicher Synergien und das Gewinnen lebenslanger Freundschaften. Regelmässig treffen sich die Klubmitglieder in stilvollem Ambiente, feines Essen inklusive. Aufgenommen wird man nur auf Empfehlung. Etliche Mitglieder besetzen Schlüsselpositionen in Wirtschaft, Verwaltung und Politik.
Einsamkeit in allen Altersgruppen
Einen Platz in der Freizeit- und Konsumgesellschaft zu finden und dennoch die Individualität zu bewahren, ist für viele Menschen eine Gratwanderung. Für manche ist Autonomie die Erfüllung eines Lebenstraums. Für andere wird sie zum Albtraum. Von Einsamkeit betroffen sind heute alle Altersgruppen, besonders aber Senioren. Mit dem Verlust der Arbeit verlieren sie oft auch Anerkennung, soziale Kontakte und häufig einen Teil ihres Einkommens. "Viele Leute laufen dann Gefahr, sich vom öffentlichen Leben abzukoppeln", analysiert Thomas Estermann. "Ziel der psychosozialen Beratung ist die Überwindung der Vereinzelung, damit sich diese nicht bis zur pathologischen Selbstisolation steigert."
Die Gespräche sollen das Selbstwertgefühl seiner Klienten stärken und sie zum Aufbau eines äusseren Kollegenkreises ermutigen. Das heisst auch, Interessen zu bündeln und auf das verfügbare Budget des Klienten abzustimmen. Materielle und immaterielle Sicherheit macht in der Regel den Zugang zu "Neuem" leichter. Zugleich warnt Estermann vor einer zwanghaften Suche nach Gemeinschaft. Man müsse auch lernen, allein zu sein. "Ausserdem kann die Zugehörigkeit zu einer Vereinigung Gefahren mit sich bringen", erklärt der Fachmann mit Blick auf dubiose Gruppierungen. Hohe Eintrittspreise, eine "Heldentat" als Initiationsritus oder das Vertreten von autoritären Dogmen sollten misstrauisch machen. Auch anonyme Webklubs bergen die Gefahr des Missbrauchs.
Fitnesscenter als Kontaktbörsen
Solche Überlegungen sind Max* fremd. Der Fitnessfan fühlt sich in seinem Basler "Fitorama" pudelwohl. Ein sonniger Sonntagmorgen, 11 Uhr. Musik im Hintergrund. Überall kämpfen schwitzende Menschen lautlos mit Geräten, die mit Fernsehmonitoren bestückt oder mit Gewichten behängt sind. Männer und Frauen zwischen 20 und 80 in bunten Aerobic-Anzügen. Sie tun dies, weil es ihnen Spass macht und gesund ist, weil eine Gruppe motiviert, das Training das Wohlbefinden stärkt und die Muskeln strafft. Und weil sie so nicht allein sind. Max sagt: "Fitnesscenter sind die Vereine von früher und die Kontaktbörsen von heute." Aber er weiss auch: Netzwerke beruhen auf Gegenseitigkeit und bereichern das soziale Leben. Doch auch das beste Netz kann eines nicht ersetzen: Echte Freundschaft. Jemanden, der Seele und Herz berührt.
* Name geändert
30. Dezember 2005
VON DER VEREINS- ZUR CLUB-GENERATION
etb. Die Entstehung des Vereinswesens ist eng mit der Industrialisierung verknüpft. Als sich Anfang des 19. Jahrhunderts die ständische Gesellschaftsordnung auflöste, entstanden zahlreiche Vereine, "Gesellschaften" und Verbindungen. Als Verein bezeichnet man den Zusammenschluss von Personen, um politische, religiöse, wissenschaftliche, künstlerische, wohltätige, gesellige oder andere nicht wirtschaftliche Anliegen zu verfolgen (Art. 60 ZGB). Seit 1848 hat jeder Schweizer Staatsbürger das Recht, sich mit Gleichgesinnten in einem Verein zu einem gemeinschaftlichen Zweck zusammenzuschliessen. Hinter dem Begriff "Klub" verbirgt sich oft die Rechtsform Verein.
Ob Netzwerk, Gesinnungskreis, Verein, Clubbing oder Klub, es sind Anlaufstellen. Hier findet man Inspiration, Spass, Bereicherung, Wettkampf, Freundschaft, berufliche Synergien, soziale Integration und mit etwas Glück vielleicht sogar die grosse Liebe.
Informationen über Sportklubs oder -vereine:
www.baspo.ch und www.swissolympic.ch;
Dachverband gemeinnütziger Stiftungen: www.profonds.org;
Funklubs und Interessengemeinschaften: www.proinfo.com;
Freizeit- und Webklubs: www.fifty-plus.ch und www.meetingpoint.ch.
Informative Linksammlung unter www.trendletter.de und Flinders University/Australian Longitudinal Study of Aging (ALSA): www.flinders.edu.au.