Das Buch von Lukas Ott zur wechselvollen Entwicklung der psychiatrischen Versorgung im Kanton Baselland
Prolog: Im Frühjahr 1977 recherchierte ich für die junge "Basler Zeitung" eine Artikelserie über die Zustände in der psychiatrischen Klinik Liestal. Kein Detail blieb mir so deutlich in Erinnerung wie dieses. Als ich den damaligen Chefarzt Arnold Tschudin für eine Stellungnahme anrief und mit "Grüezi Herr Tschudin" begrüsste, schnitt er mir schroff das Wort ab: "Doktor Tschudin!" Im Umgang mit Medien wohl nicht sehr geübt, war dem Klinik-Chef offenbar entgangen, dass Journalisten im professionellen Umgang Doktortitel weder mündlich noch schriftlich erwähnten.
Die Massregelung war unbedeutend, aber sie erschien mir wie eine nicht erklärte Bestätigung der Recherchen, die ich mit Ruth Buser zusammengetragen hatte: Die Artikel trugen die Titel "Zu wenig Hilfe für 'hoffnungslose Fälle'", "Hierarchie lähmt Kooperation" und "Warten auf die dringliche Reform".
Gehirn-Operation soll "Ruhe" vermitteln
Die Serie (Bild) dokumentierte unter anderem den Fall eines damals 14-jährigen Knaben, an dem die Klinik-Ärzte Oligophrenie (Schwachsinn) diagnostiziert hatten. Mit einer Gehirn-Operation wollten sie dem jungen Patienten zu "Ruhe" verhelfen. Der Eingriff unterblieb nur wegen seines schlechten Allgemeinzustands. Aus dem "hoffnungslosen Fall" wurde nach seiner Verlegung in eine anthroposophische Wohn- und Arbeitsgemeinschaft ein "normaler Mensch".
Weitere Aspekte betrafen die streng hierarchische Struktur, die zu Spannungen führte, weil die Ärzte beispielsweise ihre medizinischen Geheimnisse nur ungern preisgaben und engeren Kontakten zum Pflegepersonal meistens abweisend gegenüberstanden, oder die Personalknappheit, die dazu führte, dass Patienten "regelrecht abgefertigt" werden mussten.
Kontroverse Reaktionen
Die Reaktionen auf die Artikel-Serie waren kontrovers: Eher oder ganz zustimmend aus Kreisen der Pflegenden und Patienten, ablehnend von Chefarzt Arnold Tschudin. Dem eben erschienenen, über 200 Seiten starken Buch des Soziologen Lukas Ott über die "Geschichte der Psychiatrie im Kanton Basel-Landschaft" ist zu entnehmen, dass Tschudin seinen politischen Vorgesetzten, Sanitätsdirektor Paul Manz (SVP), aufgefordert habe, die "unsachlichen, polemischen und frechen Zeitungsartikel" klar zurückzuweisen.
Der frühere reformierte Pfarrer Manz, seinerzeit unbestritten der "starke Mann" in der Baselbieter Regierung, stärkte seinem Chef-Psychiater anfänglich tatsächlich den Rücken.
Diese Position brachte Manz auch dann zum Ausdruck, als die damalige SP-Landrätin Angeline Fankhauser als Folge der Artikel-Serie in einem Postulat eine Psychiatrie-Reform in den "kantonseigenen Anstalten" und grundlegende Neuerungen anregte: den Einbezug des Pflegepersonals in die Therapie-Entscheidungen, Ambulatorien mit regionalen Schwerpunkten und externe therapeutische Wohn- und Arbeitsmöglichkeiten. Diese Ziele seien bei der absehbaren Wahl von Tschudins Nachfolger zu berücksichtigen.
Medienberichte lösten Psychiatrie-Reform aus
Manz war zwar bereit, das Postulat entgegen zu nehmen, aber "nicht, weil sie glaubt, es werde mit den Mitteln, die der Klinik zur Verfügung stehen, keine gute Arbeit geleistet", wie dem Buch zu entnehmen ist. Es schien damals ein Zustand der Unsicherheit zu herrschen. Die landrätliche Umwelt- und Gesundheitskommission fühle zwar auch ein "Unbehagen über die Klinik", fühle sich aber "nicht kompetent", in Fragen der psychiatrischen Versorgung mitzureden. So blieb einige Zeit in der Schwebe, ob tatsächlich Bewegung in die staatliche Psychiatrie kommt.
Heute kommt Autor Ott, früherer Liestaler Stadtpräsident und seit wenigen Monaten Leiter der baselstädtischen Kantons- und Stadtentwicklung, zum Schluss, dass der dreiteilige Report der "Basler Zeitung" und anschliessende Recherchen des "Beobachters" über die Zwangspsychiatrisierung eines 67-jährigen Mannes aus Pratteln, der von der Polizei "wie ein Schwerverbrecher" an der Haustür abgeholt wurde, ab 1978 die Auslöser der grundlegendsten Psychiatrie-Reform waren, die das Baselbiet erlebt hatte.
Gesinnungswandel beim Sanitätsdirektor
Reform-Regisseur war ausgerechnet der etwas medienskeptische Regierungsrat Manz, der einen spektakulären Kurswechsel durchlief: Die Lektüre von über einem Dutzend Bücher über Ziele und Formen psychiatrischer Versorgung sowie Diskussions-Impulse durch seinen Sohn Andreas, der in den USA mit sozialpsychiatrischen Einrichtungen in Kontakt gekommen war.
Die Folge des Gesinnungswandels: Wie von Parlamentarierin Fankhauser verlangt, wählte die Regierung auf 1. Dezember 1978 den fortschrittlichen Basler Psychiater Theodor Cahn zum neuen Chefarzt. Er war es, der zusammen mit Co-Chefarzt Jakob Christ (er baute die Externen Psychiatrischen Dienste auf) im Baselbiet der Sozialpsychiatrie den Weg öffnete. Im November 1980 legte die Regierung ein neues "Psychiatriekonzept" vor, das einen Bettenabbau, Verzicht auf fragwürdigste Therapieformen, die Verstärkung der Vor- und Nachsorge bei Kriseninterventionen und des Kinder- und Jugendpsychiatrischen Dienstes vorsah.
Neuer Chefarzt ohne weisse Ärztekleidung
Der radikale Paradigmawechsel war auch optisch erkennbar. Chefarzt Cahn lehnte den weissen Ärztekittel ab, und bald drauf trug auch Pflegedienst-Chef Emil Rämi während der Arbeit nur noch Zivilkleidung. Dem Bestreben der Leitung, die Patienten als Partner zu betrachten, schloss sich auch Klinikverwalter Rolf Müller an: Beharrlich verwirklichte er auf frei gewordenem Land einen Tierpark. Er trug seinen Teil zur Öffnung der Kinik bei, indem er öffentliche Veranstaltungen, Jazz-Matinées und Kunstausstellungen organisierte.
Die Geschichte der Baselbieter Psychiatrie, die Ott chronologisch und unter Nutzung vieler unbekannter Quellen nachzeichnet, beginnt 1854 mit der Einrichtung einer "Irrenabteilung" im neuen Kantonsspital. Der Neubau löste das frühere "Siechenhaus" ab, das als "Armen- und Invalidenhaus, Kranken- und Irrenanstalt ein multifunktionalen Sammellager für alle Randständigen" (so Herausgeber Hans-Peter Ulmann, der bald in Pension gehende CEO der Psychiatrie Baselland) gedient hatte.
Beklemmendes Stück Sozialgeschichte
Sowohl die Dokumentation des von militärischer Züchtigung, Unterdrückung und kargsten Lebensbedingungen geprägten Alltags der "Siechen" wie auch der aus heutiger Sicht hilflosen Anfänge der neu entstehenden medizinischen Disziplin liest sich phasenweise auch als ein beklemmendes Stück Sozialgeschichte: Die Hilflosigkeit und Aggressivität der Gesellschaft im Umgang mit Menschen, die – auf die Hilfe Anderer angewiesen – in der einen oder andern Form nicht der herrschenden Norm entsprachen.
Es ist ein Verdienst dieses spannend und gleichzeitig distanziert geschriebenen Auftragsbuches, dass es nicht nur die positiven professionellen, baulichen und institutionellen Entwicklungen ausführlich würdigt, sondern auch die kritischen und teilweise sehr problematischen Ansätze, mit denen sich die Geistesmedizin nach dem Muster von trail and error die Entwicklung bahnte.
Dazu gehörten Gehirn-Operationen ebenso wie Zwangssterilisationen, anfänglich ohne Narkose durchgeführte Elektroschock-Therapien oder Wirkstoff-Versuche mit Psychopharmaka in der 1934 eröffneten Heil- und Pflegeanstalt "Hasenbühl" in Liestal – Praktiken, die laut Autor Ott "auch andernorts gang und gäbe" waren, was sie deshalb aber "nicht besser" mache.
"Auftragsmörder" gelang die Flucht
Aufsehen erregend und keine Referenz an die damalige Klinik war die spektakuläre Flucht von Bengt Salvèn aus dem angeblich ausbruchsicheren Erweiterungsbau im Jahr 1975: Der Schwede hätte in Ziefen einen Auftragsmord begehen sollen (der allerdings nicht gänzlich zum Erfolg führte). Nach seiner Verhaftung in Liestal wurde er auf Anordnung des Statthalteramtes als Untersuchungshäftling in der ein Jahr zuvor eröffneten Psychiatrie-Klinik interniert. Diese Massnahme warf die Fragen nicht nur nach der Gebäudesicherheit, sondern generell der Internierung von Straftätern in psychiatrischen Einrichtungen auf.
Letzter Vertreter der alten Schule war der auf den Rorschach-Test spezialisierte Chefarzt Arnold Tschudin. So erlebte ihn auch ein damaliger Assistenzarzt, gegenüber OnlineReports aber relativiert: "Er kam draus, war mit uns anständig, leitete die Sitzungen gut und hatte ein gutes Gespür für die Patienten." Wie sich Tschudin gegenüber Patienten und Pflegenden verhielt, kann der spätere Hausarzt nicht sagen: "Es gab keine Chefarzt-Visiten." Die Sprechstunden seien "kurz und bündig" gewesen.
Massive Verbreiterung der Angebots-Palette
Seit der grossen Reform in den achtziger Jahren, die landesweit zur Kenntnis genommen wurde, stand die psychiatrische Versorgung trotz gewisser Rückschläge nie mehr auffällig in der öffentlichen Kritik. Dies ist auf den Aufbau zahlreicher neuer Dienstleistungen zurückzuführen: Aids- und Drogenberatungsstelle, Wohnheime, Versuche mit Geistheilen, Arbeitsintegration und vieles mehr.
Aus der aufbewahrenden Psychiatrie ist die Sozialpsychiatrie entstanden, im Fokus stehen das therapeutische Milieu und die Reintegration, wie es der Buchtitel andeutet: "Man geht hinein, um wieder herauszukommen". Aber auch heute ist die Psychiatrie nicht an ihrem Ende angekommen. Die Publikation, die einen lesefreundlicheren Satzspiegel und die eine oder andere Zahlengrafik verdient hätte, zeigt: Die Suche nach dem richtigen therapeutischen und gesellschaftlichen Umgang mit Geisteskrankheiten geht weiter.
Lukas Ott: "Man geht hinein, um wieder herauszukommen". Schwabe-Verlag. Basel 2017.
24. Februar 2018