Theater Basel, Schauspielhaus
Uraufführung/Auftragswerk
"Vor Sonnenaufgang"
Schauspiel von Ewald Palmetshofer nach Gerhart Hauptmann
Inszenierung: Nora Schlocker
Bühne und Kostüme: Marie Roth
Musik: Marcel Blatti
Licht: Tobias Voegelin
Dramaturgie: Constanze Kargl
Mit Pia Händler, Steffen Höld, Myriam Schröder, Cathrin Störmer, Thiemo Strutzenberger, Michael Wächter, Simon Zagermann
Dauer: 165 Minuten mit Pause
Der pünktliche Morgenschiss zum Frühstück
Ein Mensch ist auf die Welt gekommen, er ist tot. Der Schrei scheint Mutter Martha wie tief aus dem Uterus hoch zu steigen. Sanitäter führen die vibrierende Frau im blutigen Hemd weg. Unbarmherzig brennt ein Scheinwerfer aus der Hinterbühne sein Licht in die Netzhäute im Auditorium: Die Sonne geht auf, also mitleidlos das Leben weiter. Aber wie denn? Die Familienleute stehen da wie Fragezeichen. Licht aus.
Der Scheinwerfer als Sonne, und wirken tut es trotzdem: Regisseurin Nora Schlocker betont nicht nur da das Offensichtliche der Theatermittel. Ein Sensor an der Hauswand, der zwei grelle Fluter in Betrieb setzt, symbolisiert den generellen auf Bewegung empfindlichen Alarmismus im Bürgerhaus.
Die wie eine Puppenkiste auf die Bühne gestellte kahle Bühne verdoppelt den Sogeffekt des Guckkastens. Die Leute sind in der künstlichen Welt nicht heimisch, sondern ausgestellt: Im fahlen Grün der Wände heben sich die Familienmitglieder in grün, weiss, beige kaum ab, jedoch überdeutlich stechen die unglücklich gestrandete Familienrückkehrerin Helene Krause in knallrot, in schwarz der undurchsichtige Besucher Alfred Loth hervor.
Schlocker lässt gut zweieinhalb Stunden naturalistisches Sprechtheater spielen und völlig gebannt folgt das Publikum. Wir alle, so offenbar die hintergründige Botschaft, lassen uns immer gern was vormachen. "So ist der Mensch", resümiert der Arzt das laut ihm unveränderbare Ding voller Vorstellungen, das zwischen zwei Ewigkeiten kurz durchatme. Sollen wir das pessimistische Pathos zum Nennwert nehmen? Palmetshofer und Schlocker lassen uns bewusst mit der Frage allein. Darin liegt die Grösse des Abends.
Vordergründig hat der Dramatiker Ewald Palmetshofer aus Elementen von Gerhart Hauptmanns gleichnamigem Stück eine Family Soap mit den genre-üblichen fiesen Neckereien und Rempeleien geschöpft: Ausführlich spricht Hausvater Krause von seinem pünktlichen Morgenschiss, während Tochter Helene am Frühstücken ist. Hausmutter Annemarie spielt die Wächterin über die bürgerlichen Tischsitten, die schwangere Martha die auf Abruf beleidigte Gefühlssuse, und alle erschöpfen ihren Witz darin, sich gegenseitig in die jeweilige Familiencharge zurückzudrücken und die heile Stubenwelt mit Gemeinplätzen festzukleistern.
Auch wenn bis über die Hälfte des Stückes sehr viel gelacht wird, ist es Palmetshofer mit der Familienhölle absolut ernst, in der er die Menschen in der mittelständischen Familie buchstäblich bis auf die Unterhosen als Gefühlssimulanten, Reaktionspuppen und Bedürftigkeitsmonstren auszieht. Aber anders als die Soap und ihre Figuren will er nicht demütigen, sondern verständlich machen.
Dabei interessiert ihn nur, wie die Menschen miteinander umgehen. Das scheinbar Greifbare dazu in der Vorlage von 1889 wie etwa die Bildungs-Fallhöhe zwischen Bauern und Städtern oder die Ausbeutung der Minenarbeiter hat er gestrichen. Den fatalen Alkoholismus bei den Krauses hat er zu raunenden Andeutungen ausgeblasst.
Zur Probe kommt es, als Alfred Loth am Vortag der Totgeburt seinen einstigen Studienkollegen Thomas Hoffmann, der sich mit Martha in das gutsituierte Unternehmerhaus eingeheiratet hatte, besucht. Zwischen dem linken Journalisten und dem bürgerlichen oder vielleicht sogar rechtsstehenden Politiker entbrennt bald ein weltanschaulicher Krach.
Palmetshofer vermeidet jedoch auch hier die tagesaktuelle Politdiskussion: Wichtiger ist ihm, wie hasserfüllt sich Hoffmann zum potentiellen Gefährder seiner Karriere verhält, wie feige der Idealist Loth auf die Liebe von Hoffmanns Schwägerin Helene reagiert, als der Arzt Peter Schimmelpfennig ihn auf gesundheitliche Probleme in der Familie hinweist.
Die Diskussionen, das Geschrei, ja selbst das ernst gemeinte Weinen werden als hilflose und vorübergehende Artikulationsformen erkennbar, die auf tiefere Nöte und unbekannte Empfindungen hinter den oft verkrampften Gesichtern und Floskeln verweisen, zu denen die Leute den Bezug verloren haben.
Auf die oft unüberwindliche Schwelle zu den Potentialen werfen Palmetshofer und Schlocker das Licht – mit Hilfe eines agil und vielschichtig aufspielenden Ensembles. Ein Schauspielfest, das einen über weite Strecken in Hochspannung versetzt: sorgfältig erarbeitet, diszipliniert, klar akzentuiert und virtuos gegeben. Anders rum: Ohne die hohe Qualität von Händler, Höld, Schröder, Störmer, Strutzenberger, Wächter und Zagermann wären Inszenierung und Stück mit dem subtil differenzierten Konzept ein fader Brei. Das Publikum jubelte, spendete donnernden Applaus. Hingehen!
25. November 2017