Theater Basel, Kleine Bühne
Uraufführung/Auftragswerk
"Der Revisor oder: Das Sündenbuch"
Komödie von Lukas Linder nach Nikolai Gogol
Inszenierung: Cilli Drexel
Bühne: Christina Mrosek
Kostüme: Janine Werthmann
Musik: Elia Rediger
Licht: Stefan Erny
Dramaturgie: Sabrina Hofer
Mit Andrea Bettini, Mario Fuchs, Vincent Glander, Franziska Hackl, Barbara Horvath, Katja Jung, Thomas Reisinger, Max Rothbart
Klagechor: Verena Bossard, Tina Glauser, Esther Meier, Karin Ochsner, Sibil Rossi, Meret Zimmermann
Wurst, Rösti und Abschottung
An einer SVP-Albisgüetli-Tagung würde das Stück mutmasslich Tumulte und Ausschreitungen provozieren. In ein namenloses Dorf, in dem Katzen auf der Strasse abgeknallt werden und der feiste Gemeindepräsident Afrika nicht von Australien unterscheiden kann, kommt ein Fremder. Die Dörfler halten ihn für einen "Asylanten". Da er nicht wieder abreisen will, endet er am Marterpfahl. "Na, wie hat Ihnen die Hinrichtung gefallen?", ruft der Dorfpfarrer zum Schluss ins konsternierte Publikum. Einzelne verliessen verärgert vor dem Schluss-Applaus den Saal.
"Im Revisor beschloss ich, alles Schlechte, das ich nur kannte, zusammenzutragen und mit einem Schlag dem Gelächter preiszugeben", schrieb Gogol zu seiner Komödie "Der Revisor"; den Satz stellte der Schweizer Autor Lukas Linder seiner Überarbeitung von Gogols Stoff voran. Er führt eine von Wurst, Rösti und Abschottung stumpfsinnig gewordene, bauernschlaue Egoisten-Dorfschweiz vor, wo unter der Nettigkeit Angst und Hass, unter der Bigotterie Geilheit wühlen.
Es klingt wie Spott und Hohn: Zu Beginn stimmt ein schwarzgewandeter Klagechor das "Erbarme Dich" aus Bachs Matthäuspassion an. Mit welchem Recht, möchte man fragen. Der Zivilschutzkommandant (Thomas Reisinger) erzählt dem Fremden, er fertige Puppen mit Menschenhaar an, der Pfarrer (Max Rothbart) beichtet ihm, er habe in Afrika Kondome verteilt – und diese aber vorher durchlöchert. Gerade weil nicht klar ist, ob diese Perversitäten wahr sind, man sie diesen Leuten aber mühelos zutraut, gehen sie unter die Haut. Das primitive Fussball-Gegröle "Oléééé", das der Dorftrottel Würmli (Mario Fuchs) zu seinen Auftritten jeweils anstimmt, verströmt wie als unbewussten Kommentar einen faschistischen Ruch.
Der Clou der Geschichte: Der Fremde (Vincent Glander) ist gar kein Ausländer, sondern ein vollendeter Bünzli, ein knauseriger und profitiergeiler CH-Nörgler, der mit Emphase von seiner Prügel-Kindheit bei Heidis Alpöhi erzählt, die man zwar nicht als Kindheit bezeichnen könne, dafür aber eine "perfekte Vorbereitung auf das Militär" darstelle. Die Dörfler wollen oder können ihren Irrtum nicht bemerken. Längst ist dieser René Nöthli eingespannt in ein Abschreckungs-Programm: Man versteckt vor ihm die fetten Kühe, führt ihn eigens zur stinkenden Kläranlage, serviert ihm nur Kartoffeln, lamentiert von ruinierten Äckern, hustet und schnieft wegen dem ungesunden Klima. Wenn das nicht genügt, lässt man ihn halt zusammenschlagen.
Die Breitseite gegen den Mythos der heilen SVP-Sünneli-Schweiz ist bei allem Grauen das lustigste Stück in der Direktion von Andreas Beck. Wie nur selten lachte das Premierenpublikum über Pointen im Minutentakt. Oft genügen Lukas Linder Einzeiler, um als präziser Beobachter die Deutschschweizer Mentalität soweit zu überspitzen, dass es am Ende eben wieder stimmt. Weil die Suppe lauwarm serviert wurde, gibt Nöthli dem Kellner kein Trinkgeld: Es sei ihm eine Lehre! Der Wurst-Käse-Salat muss im Dorf genau im Verhältnis 80 zu 20 zubereitet werden. Die Lehrerin (Barbara Horvath) seufzt: Noch 30 Jahre bis zur Pension. Der Gemeindepräsident raunt bedeutungsvoll, er habe dem Fremden vor einer Woche 20 Franken geliehen; dieser habe sie ihm noch nicht zurückgegeben! Selbstmitleidig begrüssen sich die Dörfler mit "Ojemineh". Ihre Beiz heisst "Zur Sau".
Das Ensemble brilliert in skurriler Überzeichnung. Andrea Bettini zeigt den Gemeindepräsidenten als gemütlichen Ernährungstypen, der die Dorfgeschicke quasi bürgerlich-verhältnismässig führt, um sich als eiskalter Despot zu erweisen, wenn er unter höchstinstanzlichem Druck Nöthli in einem Farce-Prozess aburteilt. Franziska Hackl lässt Tochter Kloe als flötenspielende Hesse-Leserin und als Monstrum schillern, das unbedingt die angeblich vorhandenen Wunden des Fremden sehen will. Alle Figuren wirken doppelbödig und jederzeit frisch trotz meterdick aufgetragener Klischees.
Regisseurin Cilli Drexel hat mit ihrer ersten Inszenierung am Theater Basel einen Wurf gelandet. Genau hält sie Mass bei der Farce: Zu keinem Zeitpunkt kann man das Stück trotz fast andauernder Übertreibung und Abstraktion als völlig von der Realität abgekoppelt abtun. Nie gerät das Stück in die Gefahrenzone eines steifen Modellfalls, wie sie bei ähnlichen Stoffen, man denkt an Dürrenmatts "Besuch der alten Dame" oder Frischs "Andorra", fast nicht wegzubringen sind. Der Pointenwitz verdrängt nie das ernsthafte Anliegen, letzteres erdrückt nie den Humor.
Zum Schluss noch der: Mitten in Nöthlis tödlichem Prozess schickt der Gemeindepräsident die Lehrerin nach draussen. Sie hat ihren Fiat im Halteverbot geparkt.
4. November 2017