Theater Basel, Schauspielhaus
Premiere
"Leonce und Lena"
Schauspiel von Georg Büchner
Regie und Bühne: Thom Luz
Musikalische Leitung: Mathias Weibel
Kostüme und Licht: Tina Bleuler
Dramaturgie: Katrin Michaels
Mit Carina Braunschmidt, Annalisa Derossi, Elias Eilinghoff, Martin Hug, Daniele Pintaudi, Lisa Stiegler
Von morbider Langeweile geschaukelt
Plötzlich, inmitten der Vorstellung, wird es zappenduster im Schauspielhaus. Schreie, Rufe, Verwirrung. "Prinz Leonce ist fort!", geflohen vor der geplanten Hochzeit mit Prinzessin Lena, die er nicht kennt. Schemen huschen auf der Bühne umher, stossen an Wände. "Grenzen, überall Grenzen!" Wir wissen: Auch ist Lena ist weg. Auf der Flucht werden sich die Beiden kennen und lieben lernen – um bei ihrer Rückkehr doch das zu tun, was ihnen immer bestimmt schien: heiraten.
Das ist der Moment, wo Thom Luz’ erste Inszenierung eines Bühnentextes bei Büchners Handlung ankommt, und es ist auch der stärkste des 90-minütigen Abends: Gestalten ohne Identität in einer Welt ohne Sinn. Am Ende jubeln zwei Liebespaare: Ich bin betrogen, ich bin verloren, ich bin gerührt. Der Mensch hat keine Wahl, muss sich seinem lächerlichen Schicksal beugen, das Leonce, Lena und der Lebenskünstler Valerio in genialischen Exkursen melancholisch erörtern.
Die Märchensatire macht sich nicht bloss lustig über die dummen Obrigkeiten in den Königreichen Popo und Pipi, sondern über den Menschen an sich, die beschrieben werden als Buch ohne Buchstaben, aber voller Gedankenstriche. Oder die sich in den Schatten ihres eigenen Schattens stellen wollen. Luz setzt das um, in dem er die ursprünglichen Rollen weitgehend aufhebt. Erst gegen Ende kristallisieren sich die Titelfiguren aus der Gruppe heraus. Büchners Spott über die Aristokratie führt Luz vor, indem er eine Abendgesellschaft in Gala strippen lässt.
Mit bildlicher Wollust stürzte er sich auf die Condition humaine und Büchners Befragung der Wirklichkeit. Der hohe Saal, in den er seine Figuren stellt, scheint der Zeit als eine ewig fortbestehende Erinnerung enthoben, so als würde der bloss behaupten: Ich war einmal. Stukkaturen weit oben, graue Flecken an den scheinbar jahrhundertealten Wänden, als Decke durchhängende Tücher, durch die mal Lüster blinken oder das simulierte Sonnenlicht. Irgendwann wird eine Gruppe Museumsbesucher durch den Raum geführt: Luz zelebriert den Zweifel an Bedeutung und Orientierung.
Ebenso verhält er sich mit dem Zeitpfeil: Rückwärts abgespielt ertönt die Anweisung zu Beginn, die Handys auszuschalten. Darauf fährt der Vorhang herunter, nachdem wir das Bühnenbild hell erleuchtet minutenlang bestaunt haben, um gleich wieder hochzugehen. Ein Herr im Frack wirft einen Stuhl nach der Pianistin, nachdem sie ihm die Show gestohlen hat: ein metaphorischer Vorgriff auf das spätere Eheleben von Leonce und Lena? Der Herr fordert uns auf, nachhause zu gehen. Man fange den Spass nochmals von vorne an. Aber was ist vorne?
Luz führt all dies ad absurdum. Ton für Ton hat er Beethovens Mondscheinsonate eigenhändig invertiert. Gegeben wird sie – in einem fast nahtlosen Rezital aus Werken von Mozart, Schumann, Berg etc. – auf einem mittig auseinander gesägten Klavier, der Bassteil rechts auf der Bühne, der Diskant links: Symbol für Leonce und Lena, die zusammengehören und die wie alle Menschen von einem ganzen Kosmos getrennt sind.
Ähnlich dem Film "Letztes Jahr in Marienbad" von Alain Resnais hat Luz scheinbar willkürlich Handlungen und stehende Gesten, Rezitationen, Repetitionen und Loops aneinandergefügt. Es wird und soll sich wohl ein jeder einen anderen Reim draus machen. So lässt man zuweilen, wie wenn man ein kompliziertes philosophisches Werk liest und nichts versteht, die Dinge mal passieren.
Es sind die automatenhaft ausgeführten Handlungen und Gags in der Art, wie man sie von Luz, etwa aus "Inferno", gut kennt: Die Abendgesellschaft steht singend draussen im Regen vor einem hohen Fenster. Einer klemmt eine Violine unter die rotierenden Borsten einer Schuhputzmaschine und lässt es sirren. Zwei Männer stehen nebeneinander und gucken an einen Punkt an der Wand. Eine Frau spricht mit einem an der Wand hängenden Damenkleid. Heraus sticht ein in Windeseile vorgetragener Monolog von Lisa Stiegler auf einem Stuhl: Zusammen mit dem Krönchen wirkt sie da wie ein Luftgeist, der die selbstisch-melancholischen Gedanken der von morbider Langeweile geschaukelten Seelen wie Leonce oder Lena in eins fasst.
Luz sorgt mit seinem Musiktheater immer wieder für Erheiterung im Publikum. Vieles ist im naiven Sinne schön anzusehen, manches aber nicht einzusehen. Es gelingt Luz, Büchners in Auflösung begriffene Lustspielwelt zu verbildlichen. Aber eine Auslegung des Stoffs, die eine Haltung dazu entwickelt, ist das nicht. Luz nimmt Büchners Figurenaussagen für bare Münze. Gerade der jüngere Teil des Publikums johlte und trampelte beim Applaus.
27. Oktober 2017