Theater Basel
Schauspielhaus
"Das grosse Heft"
Schauspiel nach dem gleichnamigen Roman von Agota Kristof
Regie: Tilmann Köhler
Bühne: Karoly Risz
Kostüme: Susanne Uhl
Komposition: Jörg-Martin Wagner
Licht: Andreas Rehfeld
Dramaturgie: Sabine Egli
Mit Inga Eickemeier, Urs Peter Halter, Anica Happich, Martin Hug, Vincent zur Linden, Friederike Wagner
Piano: Laura Chihaia, Amador Buda Fuentes Manzor
Trieb, Unglück und Vergessen
"Siehst Du", sagt eine Zuschauerin beim Verlassen des Schauspielhauses zu ihrem Partner, "man hätte das Buch zuvor gar nicht lesen müssen". Stimmt. Sehr viel Text aus dem 150-seitigen Roman "Das grosse Heft" wurde buchgetreu in den zwei Stunden wiedergegeben. Und doch ganz falsch. Dieses Schauspiel unter der Regie von Tilmann Köhler kann das Leseerlebnis nicht ersetzen.
An der Oberfläche liest man knappe Sätze, die eine abgeklärte Betrachtung suggerieren. Alles scheint klar. Es ist Krieg. Eine Mutter bringt ihre Zwillingsbuben zur Grossmutter in die "Kleine Stadt" in Grenznähe, in der "Grossen Stadt" gibt es nichts mehr zu essen. Die Geschichte der etwa neunjährigen Jungen beginnt in einer Welt, wo Armut, Verwahrlosung, rohe Grobheit, Perversitäten herrschen. "Ich werde Euch lehren, wie man lebt", ruft die Grossmutter und meint damit das kalte Gesetz des eigenen Vorteils als Überlebenstechnik. Kaum je mischen sich Güte oder Wärme in die Abfolge der teilweise entsetzlichen Begebenheiten. Der Krieg, der sich weitgehend in der Ferne abspielt und erst am Schluss die Grenzstadt erreicht, scheint sich schon davor als eine Art Vernichtungskrankheit in die Gemüter, auch der beiden Buben, zu fressen.
Aber so ganz genau erfährt man das nicht. Agota Kristofs Roman besteht in der Spannung zwischen dem, was die Buben erzählen, und dem, wie man als Leser die Schilderungen in ihrer Mehrstimmigkeit interpretiert. Sind die nüchternen Sätze nicht eh nur sprachliche Behauptung, unter denen ein weit schlimmeres, unsagbares Grauen steckt? Angeblich notieren die beiden Buben alle Erlebnisse wahrheitsgemäss in ihr Heft. Aber in den zwei Folgeromanen "Der Beweis" und vollends dann in "Die dritte Lüge" hat die ungarisch-schweizerische Autorin die Fiktion des Trilogie-Erstlings als schmerzmotivierte Verdrängungslüge hingestellt. Der Krieg scheint nur äusserer Anlass zu sein; von der Dunkelheit des Menschen, fähig zu allem, situiert im Elend zwischen Trieb, Unglück und Vergessen, handelt Kristofs Buch.
Erst nach "Das grosse Heft" erhalten die beiden Jungen einen Namen und auch da betreibt Kristof ein Spiel mit vertauschten Identitäten. Seltsam charakterlos und altersreif scheinen sie mit ihren Schilderungen. Wer sind die beiden, die in der einen Szene Mäuse lebendig in kochendes Wasser werfen, in der nächsten ein armes Mädchen mit Lebensmitteln versorgen? Wie können kleine Schuljungen jederzeit spontan eine eisigkalte Verhandlungssicherheit mit erwachsenen Gegnern abrufen, ohne dass ein Wort zu viel über die Lippen rutscht? Wie kommen sie darauf, Körper und Geist zu trainieren und abzuhärten, ein eigenes Wertesystem zu entwickeln und es sofort ohne Schwächemomente einzusetzen? Warum schicken sie ihren Vater eiskalt in ein Minenfeld, um seinen Körper danach zur Flucht zu benutzen?
An Antworten auf diese Fragen wagt sich Tilmann Köhler nicht heran. In weissem Licht lässt er sechs Sprecherinnen und Sprechern den Text abwechselnd vortragen: Das Texterlebnis soll nicht von personalen Zuschreibungen oder der Vorstellung von konkreten Räumen überdeckt werden. Das weisse Licht symbolisiert die Kälte des Textes, die leisen Klänge zweier gegeneinander verstimmten Klaviere dessen hypnotisierenden Rhythmus und die dramatischen Steigerungen.
Die schwarze, abfallende Bühne kann man als aus dem Boden ragendes schräges Dach mit Fenster (die Dachkammer der beiden Jungen?) oder als Abgrund interpretieren: darauf lässt sich balancieren oder herunterrutschen, man kann darauf, um die Mühsal der Welt zu zeigen, hochkriechen oder mit Kreide Sätze hinschreiben. Schwarze Bühne, weisses Licht: Das darf für die Holzschnitt-Artigkeit von Kristofs Text gelten. Die Leute stieben zu jedem Abschnitt neu auseinander, kuscheln sich zusammen, umhüllen sich mit grauen Wolldecken. Wenn die Buben Stiefel kaufen, halten drei andere ihre beschuhten Beine in die Luft.
So bleibt der Abend ständig in der Mittellage des Symbolischen und des spielerischen Gestaltens, berührt aber zu keinem Zeitpunkt die dunkle Macht des Textes. Hierzu hätte es vertiefte Regiearbeit mit dem teilweise neuen Ensemble gebraucht. Überbetonungen, allzu rasche Rezitation oder der bedeutende Blick ins Publikum lassen die Mehrstimmigkeit verstummen. Auch mehr Reflexion zum Stoff oder eine erweiterte perspektivische Setzung hätte man erwarten dürfen, zumal ursprünglich die ganze Trilogie angekündigt wurde.
Mit starker Präsenz und schauspielerischer Agilität fällt Inga Eickemeier auf. Friederike Wagner liefert den intensivsten Moment des Abends, wenn sie schildert, wie ein Mädchen Sex mit einem Hund hat. Es ist nur ein Bericht, der aber Kristofs düstere Regionen fühlbar macht.
21. September 2019