Theater Basel, Schauspielhaus
Schweizer Erstaufführung
"Eine Familie"
Autor: Tracy Letts
Regie: Elias Perrig
Bühne: Wolf Gutjahr
Kostüme: Charlotte Sonja Willi
Mit Andrea Bettini, Urs Bihler, Carina Braunschmidt, Inga Eickemeier, Pascal Lalo, Chantal Le Moign, Barbara Lotzmann, Isabelle Menke, Florian Müller-Morungen, Jörg Schröder, Peter Schröder, Nikola Weisse
Nichts ist so lustig wie die Familienhölle
Das Premierenpublikum im Basler Schauspielhaus johlte und trampelte. Nun wird das preisgekrönte Stück "August: Osage County" (Originaltitel) wohl auch in Basel der Renner. Das war es 2007 erst auf dem Broadway, 2008 in Mannheim: Das Nachrichtenmagazin "Der Spiegel" zählte zu Basel drei weitere deutschsprachige grosse Bühnen auf, die derzeit das Familiendrama des 44-jährigen Amerikaners Tracy Letts aufführen. "Dieses Irrenhaus ist mein Zuhause", schleudert Barbara ihrem untreuen Ehemann ins Gesicht. "Über diesen Satz kannst Du mal eine Sekunde lang nachdenken", gibt er kühl zurück. So geht es Schlag auf Schlag, dreieinhalb Stunden lang (plus Pause), und das Publikum lacht laut heraus im Verein, raunt, gibt sogar Szenenapplaus oder lauscht so gebannt, dass man die Theatermaus im Keller hört.
Wer den ganz normalen Familienwahnsinn einer amerikanischen TV-Soap wittert, liegt nicht komplett daneben. Aber dieser Theaterbraten ist schon nahrhaftere Kost. Letts will mehr als bloss Gelächter. Manche Rezensenten sahen grosse Dramatiker des letzten Jahrhunderts von der Wolke winken, allen voran Tennessee Williams. Von ihm hat Letts, dass unsere Taten am Ende stärker als wir selber sind, uns nach und nach aufreiben, bis alles Versteckte vor aller Augen liegt. Oder von Ibsen, dass diese Enthüllungen notwendig für den totalen Zusammenbruch des bisherigen Gefüges sorgen. Von Tschechov schliesslich, die schicksalshafte Hermetik der Familie, in der jede jeden bis in die feinste Nuance zu kennen glaubt, und aber alle aneinander vorbei leben. (Nebst Tschechovs Familienanlage mit den drei Schwestern.)
Das klingt wie abkupfern, ist es aber nicht nur. Denn Letts hat ein solide gebautes naturalistisches Drama über Vereinzelung und den Zerfall der weissen, amerikanischen Familie der Jahrtausendwende geschrieben. Ganz beläufig zeigt er auch mit der Indianerin Johnna, welch frappierendes Gefälle zwischen weisser Herrschaftsattitüde und farbiger, wuterfüllter aber stiller Dienstbotenergebenheit offenbar ganz normal ist in den USA.
Der Paukenschlag zu Beginn: Familienoberhaupt Beverly (69), ein frühzeitig gescheiterter Dichter und übertalentierter Trinker, stellt die junge Indianerin als Haushälterin ein – und verschwindet spurlos. Das Verschwinden zieht die ganze, sonst verstreut lebende Familienbande unters elterliche Dach in der öden Prärie Colorados. Und das Drama, besser, die Dramen nehmen ihren Lauf. Seine zurückgelassene Frau Violett (65) ist ein liebesbedürftiges Tablettenwrack, das trotz Mundhöhlenkrebs immer von neuem eine Zigarette ansteckt. Tochter Barbara ficht mit Ehemann Bill ihren Scheidungskrieg aus, denn er, der besonnene Uni-Dozent, treibt es mit einer Studentin. Das linkische Nesthäkchen Ivy unterhält eine versteckte Liaison mit ihrem ebenso linkischen Cousin, der in Wirklichkeit ihr Halbbruder ist. Und Tochter Karen rauscht mit dem kriminellen, tätowierten Sexprotz Steve an, der sich an Barbaras 14-jährige, bekiffte Tochter Jean heranmacht.
Beim Leichenmahl zu Beverlys Tod kommt es zum ganz grossen Eklat als Violett ihre Töchter mit ausgesuchter Bösartigkeit anätzt, und ihnen klar macht, dass, solange sie lebt, es nichts zu erben gebe. "Wenn Du tot bist, kriegen wir dann alles sofort", donnert ihr Barbara entgegen. Es klatschen die Ohrfeigen, klirren die Teller, knallen die Türen, knarren die Lebenslügen, fliessen die Tränen.
Der Abend bietet ein Wiedersehen mit einer verloren geglaubten Kultur auf Basels Bühne: der des saftigen Figurenspiels, das ohne Wenn und Aber darauf setzt, einen psychologischen Hintergrund spürbar zu machen. Das Ensemble tut es mit grosser, teilweise überbordender Spiellust. Bei Nikola Weisses Violett fürchten wir dauernd die nächste Säureattacke. Oder ist sie gerade von den Tabletten derart deppert, dass sie nicht mal um Zigaretten betteln kann? Isabelle Menkes Karen ist eine so narzisstische Zicke, und gleichzeitig so verloren in ihrem uneingestandenen Lebenschaos, dass es jedes Mal peinlich ist, wenn sie nur schon den Mund aufmacht. Chantal Le Moign als Barbara ist überaus glaubhaft die älteste Tochter, die emotional gedunsen vor Wut mit ihrer Mutter kämpft, mit ihrem Nochmann streitet, ihre Tochter ohrfeigt und die Familie zusammenhalten will, weil sie diese Familie braucht, damit sie glauben kann, dass diese Familie sie brauche.
Raffiniert hat Bühnenbildner Wolf Gutjahr das ganze Haus auf eine Drehbühne gestellt: Wir sehen also mal durch die Küche ins Geschehen, mal von der gegenüberliegenden Seite durch das kitschbombige Schlafzimmer Violetts in die Wohnung. Wir sehen Jean verstohlen kiffen, Violett keifen und das Indianer-Mädchen leise singen, um das Gezänke der weissen Herrschaft zu distanzieren. Diese Szenewechsel mit dem Drehen geben Regisseur Perrig Gelegenheit, amerikanische Slide-Gitarren-Songs im Stile Ry Cooders als kurze Unterbrechung einzuspielen – und mit dem Sound, mit dem Drehen einen beinahe filmisch wirkenden Breitlandwandeffekt zu erzielen.
Wie sich das Haus gegen Ende entvölkert, lässt allerdings die Spannung etwas nach. Perrig ist nicht der Regisseur, der mit präziser Wortregie genügend Spannung innerhalb der Figuren erzeugen kann. Der punktgenau gesetzte Kammerton hätte dem Stück mehr Wucht verliehen - in den zärtlichen Klängen, bei den harten Worten. So konnte oft drüber weggelacht werden, wo das Lachen auch mal im Halse stecken bleiben darf.
2. November 2009
"Lachen schafft zuviel Distanz"
Sehr gute Rezension. Kompliment. Im Vergleich mit der Aufführung in New York etwas zuviel "slapstick". Das von Perrig inszenierte Lachen schafft zuviel Distanz zum Stück. Es sollte beklemmend im Halse stecken bleiben.
Walter von Wartburg, Basel