Theater Basel
Foyer Schauspielhaus
"Durcheinandertal"
Schauspiel nach dem gleichnamigen Roman von Friedrich Dürrenmatt
Inszenierung: Anne-Kathrine Münnich
Bühne: Noemi Baldelli
Kostüm: Sophie Kellner
Musik: Robert Kirov
Video: Julian Gresenz
Dramaturgie: Carmen Bach
Mit Paul Behren
Statisterie des Theater Basel
Dürrenmatts schallendes Gelächter
Sein letzter abgeschlossener Roman sorgte bei der Veröffentlichung 1989 für Stirnrunzeln bei der Kritik. Hat er noch etwas zu sagen, oder lässt Dürrenmatt bloss seine altbekannten Motive, wie etwa die Truffes aus dem Krimi "Das Versprechen", nochmals Revue passieren? Dazu: Wie ernst kann man das alles nehmen?
Sein Roman-Ungeheuer, in dem eben Erzähltes oder die Identität von Figuren gelegentlich frech in Frage gestellt werden, ist eine metaphysische Groteske, in dem Dürrenmatt eine Gottfigur, den "Grossen Alten ohne Bart", mit globaler Wirtschaftsübermacht in eine armselige bäuerliche Idylle hineinbrechen lässt. Hier, "wo's stinkt", im "hintersten Winkel der Welt" (Dürrenmatts Vorlage war Vulpera im Unterengadin) kauft ein Zürcher Anwaltstrio im Auftrag einer "Swiss Society for Morality", hinter der der "Grosse Alte" steckt, das Kurhaus.
Im Winter dient das Haus unter der Leitung eines liechtensteinischen Reichsgrafen als Versteck für ein internationales Verbrechersyndikat. Hier weitet der Autor die Geschichte zur Dorfposse aus: Der Berufsmörder Jimmy vergewaltigt Elsi, die Tochter des Gemeindepräsidenten. Weil der Hund zum Schutz Elsis einen Gangster gebissen hat, macht die Kantonsregierung Druck: Mani müsse erschossen werden. Am Ende besetzt sogar das Militär das Dorf, um den Auftrag, den die Polizisten nicht auszuführen vermochten, zu erfüllen.
Von all diesen Dingen erfährt man in der Basler Inszenierung nur in Kurzform, fast der Vollständigkeit halber. In den Vordergrund stellt sie den Sektenprediger Moses Melker, der im Sommer Milliardäre und Milliardärswitwen in das Kurhaus lockt. Sie sollen mit seiner Hilfe der Gnade Gottes teilhaftig werden. Denn "selig sind, die da arm am Geiste sind, denn das Himmelreich ist ihrer". Und des Menschen Geist ist das Geld. In Melkers "Haus der Armut" müssen die Reichen selber kochen, putzen, aufräumen, die Betten machen.
Das Ambiente ist ein Gebetsraum mit Bibel, Kerze, Taufbecken. Aus den Lautsprechern erklingt süssliche Meditationsmusik. Der Schauspieler und Tänzer Paul Behren gibt den Moses Melker, dem Dürrenmatt enorme Hässlichkeit und überbordende Sinnlichkeit zuschreibt, wie eine Mischung aus New Age-Guru und freikirchlichem Fanatiker. Eine Atem-Meditation zu Beginn soll das Publikum einstimmen. Immer wieder ergreift er Hände, senkt segnend die seine auf Köpfe, streckt seine Arme gen Himmel. Behren tut das versiert. Aber die Realität, so zeigen es Video-Aufnahmen, ist in der Regel schriller.
Aus Dürrenmatts scheinheiligem Wirrkopf wird hier ein heilsbotschaftlicher Manager mit geradliniger Vortragskunst, die keinen wirklichen Dialog vorsieht. Wie wir uns denn Gott vorstellen, fragt er rhetorisch ins Publikum. Als eine Frau ehrlich von einer "Energie" spricht, "in der sie sich wohl fühle", gerät er in Nöte, seine Predigt wieder auf seinen Glaubenskurs zu bringen: auf den "Grossen Alten mit Bart".
In der Inszenierung Anne-Kathrine Münnichs verschränken sich Predigt, theologischer Exkurs und vielstimmiger innerer Monolog. Der scheinheilige Gottesverehrer Melker erzählt, wie er nach den ersten beiden auch seine dritte Ehefrau umbrachte: Er stopfte ihr Truffes in den Mund. Gleich darauf hört das Publikum auf der Tonspur im Kopfhörer den versoffenen Dorflehrer Goethes hermeneutische "Urworte" von der "Scheinfreiheit" des Menschen deklamieren. Und gleich im Anschluss: Elsi stapft durch den Schnee, sucht und findet ihren Vergewaltiger, den Gangster Jimmy, küsst ihn. Seine Mordtaten findet sie "echt geil".
Das ist starker Tobak und in gestraffter Form mit eingekürzter Herleitung etwas gar viel aufeinander. Das haarsträubend Verzweifelte solcher Aufpralle und deren fiese Anordnung: Wo sich dem Leser schmerzhaft bildliche Szenen vor das geistige Auge stellen, wird dieses für ein hörspielhaftes Texterlebnis geblendet. Man folgt, damit man versteht, kaum, dass man, wie beim Lesen, erlebt.
Zu verstehen gibt es jedoch an Dürrenmatts Text nur so viel, als dass da einer sein Vermächtnis schrieb, um gleichzeitig vorzuführen, dass er mit nichts fertig geworden ist: Das paradoxe Anrennen des Atheisten (und Pfarrersohnes) gegen die Existenz Gottes, die Ambivalenz zwischen tiefster Verachtung und Mitgefühl für die Menschen, die Hassliebe zur bauernschlauen Schweizer Uneleganz, die absurden Szenarien der realen Welt, für die er am Ende meistens nur die Katastrophe, die "schlimmstmögliche Wendung", bereit zu stellen wusste. Hier brennen die Bauern am Ende das Kurhaus ab und werden von den Flammen mitverschlungen.
Rückblickend kann man sagen, dass Dürrenmatt vorausahnend die Auswirkungen der Globalisierung durchgespielt hat. Der Stoff hätte viel zu bieten. Aber davon abgesehen, den Auftritt eines aktuell denkbaren Sektenpredigers in den Raum zu stellen, bleibt der Abend vorsichtig und trocken. Dürrenmatt selber soll über seinen Roman in schallendes Gelächter ausgebrochen sein.
4. Oktober 2019