Theater Basel, Schauspielhaus
Uraufführung/Auftragswerk
"Othello X"
Schauspiel von Nuran David Calis nach William Shakespeare
Inszenierung: Nuran David Calis
Bühne: Irina Schicketanz
Kostüme: Geraldine Arnold
Musik: Vivian Bhatti
Video: Geraldine Laprell
Dramaturgie: Constanze Kargl
Mit Liliane Amuat, Steffi Friis, Urs Peter Halter, Pia Händler, Florian Jahr, Thomas Reisinger, Thiemo Strutzenberger, Simon Zagermann
Livekamera: Julian Gresenz
Schwache Männer, starke Frauen
Die Aufführung "Othello X" böte Anlass, sich über das Wort "überschreiben" vertiefte Gedanken zu machen, das das Theater Basel seit der Direktion von Andreas Beck regelmässig dann verwendet, wenn einer eine Neufassung schreibt. Das Wort hat einen Klang wie Auslöschung, unter sich begraben, in der Gültigkeit hintanstellen. Fraglich, ob dies bei Shakespeares Othello gelingen kann und soll. Auch nach den teilweise packenden 105 Theaterminuten, die Nuran David Calis getextet und inszeniert hat, scheint es wenig wahrscheinlich, dass die Vorlage des Engländers von 1604 nun künftig mit neuen Vorzeichen gelesen wird.
Vorne am Bühnenrand verlas der deutsche Theaterautor ab Blatt als Prolog eine Art Absichtserklärung, auf welche Aspekte er das ursprüngliche komplexe Dramen-Monument zu fokussieren, zu reduzieren gedachte: Den Rassismus, die Ausgrenzung. Die bebende Stimme machte fühlbar, wie sehr der 42-Jährige noch heute unter seiner Jugend als "Scheiss-Türke" in einem deutschen Plattenbau leidet. Wie er sich mit Kleinkriminalität und Gewalt in der Hackordnung der Gangs hocharbeitete.
So authentisch die menschliche Botschaft, so dramatisch die emotionale Wirkung, so fragwürdig die Dramaturgie: Sowas erzählt man nicht, man zeigt es. Noch schwieriger ist der Fall, wenn die Aufführung nur in Teilen der Ankündigung folgt. Die Theaterleitung habe nicht Hand dazu geboten, eigens einen Schauspieler mit dunkler Hautfarbe zu engagieren. Also habe er die Herkunft ausgelassen, das Thema Ausgrenzung abstrahiert und sich mit einer Maske ausgeholfen: Othello als Popstar der siebziger Jahre, dessen Antlitz und Geschichte als Gassenjunge das Management vor der Öffentlichkeit versteckt.
Dass sich Othello zugunsten der Quote unter einer Mischung aus Diskokugel und Gigers Alienschädel verbergen muss, kann man als Ansatz zur Kapitalismuskritik sehen. Ansonsten fällt Othellos Isolation jedoch auf dessen zerrissenes Innenleben zurück, das ihn in Träumen heimsucht, zu Verzweiflungsanfällen und kreativen Exkursen antreibt. Eingesperrt in sein kleines Musikstudio tobt er sich aus, während Jago und sein Anhängsel Rodrigo in der Lounge über ihn herziehen.
In In der hermetisch abgeschlossenen, von Erfolgsgier, Medienterminen und Kokainexzessen überreizten Atmosphäre des New Yorker Musikstudios "Venice" (Anspielung auf Shakespeares Venedig) ist es aber sehr schwer, gesellschaftliche Ausgrenzung klar von den Manövern um Macht und Karriere abzusetzen – zumal in einer Schein- und Halbwelt von Glitzerkostümen, angeklebten Wimpern und Perücken, falschen Versprechungen, Hinterzimmerdeals und Halblügen.
Einen Einblick in die Mechanik, wie Rassismus entsteht, liefern die neidverzerrten Jago und Rodrigo, wenn sie ihren Hass auf den erfolgreichen, vom Senator-Chef als Cash-Cow beförderten Künstler Othello mit Auslassungen wie "Ungeziefer", "Schmarotzer" oder kruden Theorien zu "Rassenvermischungen" ergiessen. Aber wo sie bei diesem Othello genau ansetzen, bleibt diffus. Denn dieser Othello ist weder von schwarzer Hautfarbe noch sonstwie so "anders". Und wenn das Ensemble (auch seine geliebte Desdemona!) zu Beginn Simon Zagermanns fast nackten Leib mit Schmähworten wie "Drecknigger", "Kanake", "Bimbo" besuldet, so bleibt dies eine in den Raum gestellte Behauptung.
Im Gegensatz dazu reichten Shakespeare wenige Sätze, um uns Othellos über das ganze Stück latenten Schmerz schlagartig fühlbar zu machen. Wenn er von Jago zur Eifersucht gestachelt darüber räsoniert, warum Desdemona ihm untreu geworden sein könnte, so fällt er am dunkelsten Punkt immer auf seine schwarze Hautfarbe – in einer noblen, weissen Gesellschaft, die ihn bloss duldet, so lange er erfolgreich ist als Feldherr.
Seine Spannweite vom beinahe kindlichen Edelmut, aus dem dunkle, archaische Destruktivkräfte bersten, ist in der neuen Basler Version deutlich verflacht. Mehr Dynamik gibt der weitgehend in heutigem Alltagsdeutsch formulierte Text nicht her, auch wenn Calis für manche Spitzenmomente auf Shakespeares poetische Formulierungskunst zurückgreift. Die kalte Brutalität aber, wie Simon Zagermann mit einem Barhocker Desdemona erschlägt, wirkt erschütternd.
Dramaturgisch überzeugender als das Thema Ausgrenzung führt Calis die erstarkte Positionierung der Frau durch. Nicht nur Desdemona wie schon bei Shakespeare, auch Emilia (hier als TV-Journalistin) und Bianca sind selbständige Frauen, die auf eigene Rechnung leben. Neben ihnen zeigen sich die Herren Othello, Jago oder Cassio als schwächliche, verantwortungslose und von ihnen abhängige Jammerlappen.
Wirklich spannend ist die Aufführung, weil sie im Wesentlichen auf Shakespeares Kernszenen gestützt das Drama wie ein Uhrwerk zur Katastrophe führt. Nicht selten fühlt man sich ins amerikanische Kino der siebziger Jahre zurückversetzt, wenn genretypische Spannungsmusik Auftritte oder Szenenwechsel mit Drehbühne begleitet, wenn auf den Videoleinwänden Nahaufnahmen Gesichter in rot und grün tauchen, wenn vor allem die nervösen Männer wüst ausbrechen wie früher Al Pacino oder Robert de Niro.
Zum filmischen Eindruck gehören die oft leisen Stimmen, die sich wegen der Minimicros zuweilen anhören wie die Tonspur eines synchronisierten Films – nicht immer zum Vorteil der Dynamik und bei dem technisch versierten Ensemble auch nicht nötig, das zwar wenig überrascht, aber mit klar gezeichneten Figuren, konzentrierter Führung und viel Spiellust überzeugt. Thiemo Strutzenbergers Jago ist mit seinem weichen Parlando ein herrlicher Intrigant – schon fast zu sehr, als dass jemand auf ihn hereinfallen könnte.
27. Oktober 2018