Theater Basel, Schauspielhaus
Uraufführung
"Nirgends in Friede. Antigone."
Autorin: Darja Stocker (nach Sophokles)
Bühne: Viva Schudt
Kostüme: Sara Schwartz
Dramaturgie: Sabrina Hofer
Musik: Patric Catani
Licht: HeidVoegelinLights
Mit Nicola Kirsch, Pia Händler, Steffen Höld, Martin Hug, Lisa Stiegler, Cathrin Störmer, Simon Zagermann
Antigone im arabischen Frühling
Ein meterhohes Stahlgestell füllt den Bühnenhintergrund aus. Es könnte einen der Grenzzäune darstellen, mit denen Europa die Flüchtlinge aus dem afrikanischen Kontinent abwehrt. Es könnte aber auch eine Stadtmauer symbolisieren, mit der sich der thebanische Machthaber Kreon im Bruderkrieg die Aufständischen unter der Führung von Polineikes vom Leib hält. Oder – mit etwas Fantasie – eine Strassensperre auf dem Tahrir-Platz in Kairo.
Das sind die Dramen, die hier drei Antigones umtreiben, zu deren Auftritt erstmal das Licht ausgeht; eine Diesseits-Welt, die schon so etwas wie Unterwelt ist; werden die Leuchtstoffröhren am Gestell angeknipst, erinnert das Szenario an eine düstere Light-Show, wie sie etwa der englische New Wave-Sänger Gary Numan zur Untermalung seines melancholischen Dark-Pops verwendete.
Bald werden die Flüchtlinge vor den Toren Thebens stehen, der Aufruhr in den Strassen der Stadt werden den Diktator bedrängen, und der wird die drei Antigones als Aufrührerinnen hinrichten lassen, wobei er selber blutüberströmt zu Tode kommt. Die Aufführung endet mit einer Revolution, bei der sich die Guten und Einsichtsvollen gegen diejenigen erheben, die sich auf die Seite von Abschottung, Besitzstandssicherung, Machtkalkül, schalen Vernunftslösungen und des bildergeilen Medienzynismus stellen.
Jene Medienbilder sind es jedoch auch, die die drei Antigone-Schauspielerinnen Nicola Kirsch, Cathrin Störmer und Lisa Stiegler (gekonnt) heraufbeschwören, wenn sie ausgiebig von den Flüchtlingsschicksalen auf den Booten, den Unruhen in der Stadt oder den Schandtaten der Sicherheitskräfte berichten. Oder wenn Steffen Höld (furios) als agiler Machtmensch Kreon den verkrampft um Seriosität bemühten Auftritt heutiger Staatschefs nachahmt und dabei die Hände zu Angela Merkels berühmter Raute formt.
Die 32-jährige Schweizer Autorin Darja Stocker hat Sophokles' Stück nicht nur über den Bruderkrieg zwischen Polineikes und Eteokles ausgeweitet, der vor seinem eigentlichen Drama liegt, sondern den antiken Stoff auch mit allerlei politischen Anliegen angefüllt. Man spürt viel Betroffenheit, auch aus persönlichem Augenschein an den erwähnten Tatorten; etwa wenn sie von den Schlägertrupps bei Demonstrationen in Ägypten oder mit beissendem Sarkasmus den Aufprall zwischen den armen Flüchtlingen und den reichen Touristen in Griechenland schildern lässt. Die Autorin will uns etwas mitgeben. Die Frage bleibt: was?
Ist es wirklich das hilflos-naive Credo an die Mobilisierung der Massen? Oder geht es um Antigones Unbedingtheit, die sie in den Tod führen muss? Bei Sophokles begräbt sie ihren Bruder Polineikes gegen das von Kreon mit Todesstrafe belegte Verbot, weil sie die Gebote der Unterwelt für massgeblicher hält. Hier lässt sie den toten Polineikes durch die Massen führen, um diese aufzuwiegeln. Bei Sophokles ist sie im Recht. Und hier? Mehrfach deutbar wäre dazu der Satz, den Stocker der Spielfassung vorangestellt hat: "Die Wahrheit sind nicht die Fakten, sondern wie Antigone die Realität erlebt."
Bei Sophokles ging es um das Drama des Menschen am Beispiel von Antigone, die ihre Ethik aus der Transzendenz bezog, wogegen sich angesichts der andauernd katastrophalen Geschichte die gegenwärtigen Dramen in Stockers Erzählung über den Gang der Menschheit als aktualisierendes Themen-Dropping ausnehmen. Einer Menschheit auch, die der Massenbewegungen und der Betroffenheitsemotionen bedarf, um sich zu mobilisieren. Oder vielleicht sieht Stocker hinter all dem einen neuen Frühling anbrechen?
Der vielschichtige Text, reich an Bezügen, voller Wechsel in Stil und Abstraktionsgrad, mit längeren Monolog-Passagen, der während der Probezeit von der Autorin auch noch nachbearbeitet wurde, stellte das Ensemble vor eine anspruchsvolle Aufgabe. Es hat sie als ganzes mit einer intensiven und konzentrierten Leistung über weite Strecken glänzend gemeistert. Pia Händler als Ismene, Cathrin Störmer als Antigone 3, Martin Hug als Wächter und der bereits erwähnte Steffen Höld überzeugten mit besonders prägnanten Auftritten.
Über die fast zwei Stunden folgte das Premierenpublikum dem nicht leicht verständlichen Stück mit voller Aufmerksamkeit und applaudierte anschliessend lange und heftig.
12. Dezember 2015