Die Schweiz als Fliessband – zuviel Wachstum
Wachstum ist das Mantra der Ökonomen und Politiker. Der Begriff ist zu einem Beispiel geworden, welche Macht der Verführung die Wörter auf das Denken ausüben – solange, bis die Menschen anfangen zu glauben, was sie sagen und hören. Hinter uns liegen dreissig, vierzig Jahre Wachstum. Die angerichteten Schäden sind unübersehbar. Ist es denkbar, dass wir nicht zuwenig Wachstum erzielt haben, sondern im Gegenteil zuviel?
Wir müssen angeblich wachsen, weil wir nur so aus der Krise kommen. Aber wenn zugleich gespart werden muss, wie immer wieder behauptet wird, liegt hier ein eklatanter Widerspruch zwischen zwei konträren, sich ausschliessenden Massnahmen vor.
Wachstum ist keine ökonomische Sache, sondern eine von Verstand, Logik und Urteil. Auf immer mehr Wachstum zu setzen, entspricht einem linearen, zwanghaften Denken und also der Einstellung von Lemmingen, die nichts in ihrem Lauf aufhalten kann, und die lieber in den Abgrund stürzen als umzukehren.
Gewachsen sind vor allem die Staatsschulden, die Rettungsschirme, die Geldmengen, die täglich auf den Finanzmärkten verschoben werden, die Krisen, die damit zusammenhängen – in einer Weise, die alles Vorstellbare übertrifft. Auch die Gewinne, Spitzengehälter und Boni sind gestiegen, auch die Fahrpreise der SBB, auch die Bankspesen.
Die EU will wachsen (immer noch), aber aus deren Expansion ergeben sich laufend neue Probleme, für die eine Lösung immer weniger in Sicht ist. Valencia war einmal eine europäische Boom-Town, heute ist die Stadt pleite und der selbst schon hoch verschuldete spanische Staat muss einspringen.
Deutschland hat ein Wachstumsbeschleunigungs-Gesetz. Das ist ein Ausdruck wie ein Krokodil, das zubeisst und jede Alternative, jedes Argument verschlingt. In der Schweiz ist der Bundesrat der Meinung, dass die Personenfreizügigkeit (auch ein Krokodil) das Wachstumspotenzial erhöhen würde, während sogar in der SP Bedenken laut werden (nicht zu laut). Und als Oswald Grübel noch oben auf der UBS-Leiter stand, wehrte er sich gegen die Eigenkapitalvorschriften der Banken, weil er meinte, dass es kein Wirtschaftswachstum gäbe, wenn die Banken gezwungen würden, sich zu verkleinern. Alles andere sei Illusion. Jetzt sind vor allem seine 15 Milliarden Gewinnaussichten eine Illusion.
Zu bedenken wäre nicht zuletzt, dass die sich formierenden sozialen Diskrepanzen auf das beschleunigte Wirtschaftswachstum zurückgeführt werden müssen. Je mehr Reichtum, desto mehr Disproportionen.
Die Wettbewerbsvorteile sind ausgereizt. Von jetzt an ist jeder Fortschritt, sind alle Wachstumsprognosen mit Einbussen verbunden. Warum also auf weiterem Wachstum beharren?
Würden die Aussichten der Ökonomen realisiert, bräuchten wir zwei bis drei Planeten. Noch mehr Wachstum heisst: noch mehr Ressourcen, Produktion, Konsum, Verschleiss, Entsorgung, Müll, belastete Umwelt.
Jedes Jahr wächst die Bevölkerung in der Schweiz um 80'000 bis 100'000 Menschen, was seinerseits heisst: noch mehr Zersiedelung, Gedränge in den Zügen, Staus auf den Strassen, Wartezeiten vor dem Postschalter, geheizte Zelte, weil im Inneren der Lokale der Platz nicht ausreicht, noch mehr Druck auf Löhne und Mieten, noch mehr deutsche Professoren, die der Schweiz die Welt erklären.
Die Schweiz ist im besten Sinn des Worts im Begriff, taylorisiert* und fordisiert** zu werden. Die Schweiz als Fliessband mit einer irrwitzigen Leerlaufproduktion – man denke.
Wenn die Welt nach Dubai pilgert oder zum Drei-Schluchten-Staudamm, könnte es zu einem neuen Attraktions- und Distinktionsmerkmal werden, die Antriebskräfte zurückzunehmen. Nur ein wenig. Das wäre schon viel.
Wachstum war in Notzeiten eine Notwendigkeit. Früher bedrohten Hunger und Mangel die Welt, heute sind es eher Überfülle und Übersättigung in jeder Beziehung.
Wir haben alles, was wir brauchen, ausser vielleicht Zeit, um das Leben sinnvoll zu verbringen. Worauf es ankäme, wären Individualisierung der Arbeit, immaterielle Produktion und ein inspirierteres, kritisches und kreatives Denken. Hier ist noch Wachstumspotenzial vorhanden.
* Frederick Winslow Taylor analysierte 1911 wissenschaftlich die Arbeitsabläufe, um sie desto besser rationalisieren und dadurch die Produktion maximal optimieren zu können.
** Henry Ford entwickelte ab 1910 in seinen Automobilwerken in Highland Park/Detroit die Massenherstellung in der Automobilindustrie durch Fliessbandproduktion.
9. Januar 2012
"Wachsdumm"
Aurel Schmidt hat natürlich absolut Recht. Seit mindestens 40 Jahren könnten das alle, wenn sie wollten, wissen. Aber nein, von rechts (seit jeher kein Wunder) bis links (z.B. Jürgen Trittin Grüne BRD!!!) hoffen alle auf Wachstum als Mittel zur Lösung der Krise. Mein Kommentar: Wachsdumm!
Dieter Stumpf, Basel
"Zerplatzen ist das unausweichliche Ende"
OnlineReports und besonders Aurel Schmidt ist einmal mehr für einen ausgezeichneten, weil beunruhigenden, Beitrag zu danken. Er bringt auf den Punkt, was uns beschäftigen muss.
Wachstum ist unabdingbar, um gross und stark zu werden. Ist ein Optimum an Grösse und Stärke einmal erreicht, bedeutet weiteres Wachstum Aufblähen, dessen unausweichliches Ende Zerplatzen heisst. Ist die zunehmende Globalisierung, die zu unkontrollierbaren Strukturen mit immensen virtuellen Finanzwerten führt, gesundes Wachstum? Sind von oben verordnete Mega-Gebilde künstlicher Vielvölkerstaaten, die sich in letzter Konsequenz nur autoritär führen lassen, noch Zeichen politischen Fortschritts hin zum "alternativlosen Friedensprojekt"? Und hat ein Staat, der im Zeichen von Sicherheit und Gerechtigkeit bald jedes Detail im Leben seiner Bürgerinnen und Bürger lenkt, steuert und kontrolliert nicht längst die Grenzen des Wachstums überschritten?
Muss wirklich alles sofort und auf Pump möglich sein? Kurz am Wochenende zum Shopping nach New York, jedes Jahr zwei, drei Mal auf die Malediven zum Schnäppchenpreis? Immer das neuste Automodell, geleast natürlich? Erdbeeren und Kirschen im Januar? Jährlich ein paar neue elektronische Geräte? Beim ersten Beziehungsknatsch rasch wieder scheiden? Staatliche Therapien für jedes Kind, das nicht ins 08/15-Schema passt? Wir haben uns an Dinge gewöhnt, von denen unsere Grosseltern nicht zu träumen wagten und die sie wohl auch zum Erschaudern brächten.
Die kommenden Jahre werden uns herausfordern, über alle Parteigrenzen hinweg: Gefragt sein werden wieder regionale Produkte aus echter Arbeit, mit reellen Werten gedeckte Währungen, kleinräumig schlanke und demokratisch veränderbare Strukturen in Wirtschaft und Politik. Wir sollten uns auf einen bescheideneren Lebensstandard einstellen, der uns die Freiheit bietet, bei Sturm weniger tief zu fallen. "Ora et Labora" wäre dazu kein schlechter Wahlspruch.
Thomas Weber, Landrat SVP, Buus
"Profitgier und Batzendenken"
Endlich ein gescheiter Kopf, der nicht nur an sich selber denkt. Es wird uns ja gerade in der neusten Zeit aufgezeigt, wohin uns die Profitgier und Batzendenken von sogenannten integeren Personen und Wachstumspredigern führt. Ins Offside!
Danke Herr Aurel Schmidt Sie sprechen mir aus der Seele ...
Jörg Jantz, Basel
"Die irrsten Typen sitzen am Ruder"
Wir leben in einem Irrenhaus, und die irrsten Typen sitzen am Ruder. Gut, dass Aurel Schmidt wieder mal daran erinnert, was der Club of Rome zum Wachstums-Mantra schon in den 70ern postuliert hat. Wir brauchen ein spirituelles Erwachen auf breiter Basis, und das schnell, aber wie das zustande kommen soll, weiss ich auch nicht.
PJ Wassermann, Hersberg
"Pflichtlektüre für Poltiiker"
Es ist sehr schwierig einen Artikel wie diesem gerecht zu werden in einem Leserbrief. Dieser Artikel sollte als Hilfe für alle Politiker, für Ihre geistige Entwicklung betreffend Zukunftsvisionen, Pflichtlektüre sein.
Wachstum ist das Eine. Qualitatves Wachstum das Andere. Wir haben leider nur Wachstum. Schauen wir auf die Zahlen der nicht so gebildeten Schweizer Bürger und die Anzahl Arbeitsplätze für diese Menschen, so können wir leicht feststellen, dass wir kein qualitatives Wachstum haben.
Die folgen sind sehr einfach ab zu sehen.
Ihr Artikel ist ein Volltreffer für mich. Es erstaunt mich von einem so grossen Denker diese Zeilen zu lesen. Ich kann nur hoffen, dass über OnlineReports viele Leser diesen Artikel lesen können.
Rolf Hermann, Schönenbuch