Kein Geist, kein Willen, kein Ich
Wir wissen, dass wir auf Schritt und Tritt Datenspuren hinterlassen, sind uns aber nur selten bewusst, welche Konsequenzen damit verbunden sind. Zwei Milliarden Menschen überlassen Facebook ihre Likes und ermöglichen dem Unternehmen einen florierenden Datenhandel, mit dem Wahlen (Trump) und Abstimmungen (Brexit) gewonnen werden können. Manchmal erfolgt ein Aufschrei der Empörung, aber meistens läuft alles nach Businessplan ab. Willkommen in der Digital-Demokratie!
Daten sind Leben. Wer Daten sammelt und auswertet, kann sich einen Überblicksvorteil über das Leben von Millionen Menschen und deren Vorlieben und Geschmackspräferenzen verschaffen. Facebook prahlt ja gern, dass es mehr über dich weiss als du selbst. Macht nichts. Dein Puls wird gemessen und du bekommst eine SMS: Zeit für einen Check! Facebook sorgt oder wacht über dich. Und kassiert. Die Vorteile, die die grossen Datenunternehmen anbieten, sind auf fragwürdige Weise beträchtlich, weil sie mit unpassender Visibilität bezahlt werden.
Privatheit war gestern, heute ist Transparenz. Dave Eggers hat sie in seinem Roman "Der Circle" als totalitäre Vernunft vorgeführt. Niemand entkommt der Öffentlichkeit. Wir sind gewissermassen Opfer oder Geiseln unserer erworbenen Freiheit.
Die aufgrund von hinterlassenen Daten erfolgte lückenlose persönliche Erfassung und Indoktrination des Menschen ist eines der zentralen Themen im Buch "Homo Deus" von Yuval Noah Hariri.
"Müssen wir uns den Algorithmen
bedingungslos unterwerfen?"
Der Autor beschreibt darin, eingebettet in eine breit angelegte Menschheitsgeschichte, wie die Jäger und Sammler der Vorzeit ihren alten Götterglauben nach und nach verloren und sich statt mit dem Hantieren mit Faustkeilen neuerdings mit Algorithmen und biotechnologischen Erkenntnissen zum Homo Deus, zum gottähnlichen Beherrscher der Welt, aufschwangen. Das radikal säkulare Denken ist der erfrischendste Teil des Buchs, auch wenn der moderne Mensch statt Göttern heute Geld und Google Glauben schenkt. Es gebe Gene, Hormone, Nervenzellen, sagt Hariri, aber weder "Geist", freien Willen noch ein sogenanntes "ich". Das ist wenigstens radikal zu Ende gedacht.
Vom Garten Eden zum Garten in Woolsthorpe, wo Isaac Newton das Gesetz der Gravitation erkannte, hat sich alles mit kontinuierlicher natürlicher Konsequenz entwickelt, bis... Ja, bis KI, Algorithmen, Biologie, Nanotechnologie einen Punkt erreicht und sich die Verhältnisse in ihr Gegenteil verkehrt haben – bis die Zaubermaschinen, die der Mensch zu seinem Komfort erfand, sich gegen ihn selbst wandten.
Werden die Maschinen den Menschen eines Tages beherrschen? Das ist noch nicht entschieden. Never say never. Die Macht der Daten und Algorithmen ist erdrückend. Sie ist total. "Sie wissen alles", sagte die Informationstechnologin Yvonne Hofstetter in ihrem Buch mit dem gleichen Titel, in dem sie beschreibt, wie die intelligenten Maschinen oder, wie Hariri sich ausdrückt, die "nicht-organische Intelligenz" (statt KI) in unser Leben eingedrungen sind und es auf den Kopf gestellt haben.
Ein wiederholt gehörtes Argument besagt, dass jede medizinische Datenanalyse sich heute auf Millionen Unterlagen abstützen kann und sicherer und kompetenter ausfällt als jede Untersuchung eines Arztes in seiner Praxis es könnte. Müssen wir uns also den Algorithmen bedingungslos unterwerfen?
Das scheint, worauf Hariri hinauswill. Je mehr Daten wir freiwillig abliefern, desto genauer die Prognosen – zum Wohl der gesamten Menschheit. Also her damit! Subito! So ein Quatsch.
Vielleicht wollte Hariri seine Aussage nur als Warnung verstanden wissen, damit uns erspart bleibe, dass wir, wie er sagt, eines Tages aufwachen und feststellen müssen, von nordkoreanischen Hackern gesteuert zu werden.
Es gibt aber auch Einwände, die Hariris Darstellung in einem anderen Licht erscheinen lassen. 400 Seiten lang hat er das historische liberale Subjekt verteidigt, das ja, nach der Ansicht von John Locke, dem Verkünder der bürgerlichen Revolution, auch nur ein leeres Blatt Papier ("white paper") sei, das mit fremden Ideen (Werbung, Fake News, Parolen, populistischen Verlautbarungen und so weiter) vollgeschrieben wird.
Ausserdem ist das liberale beziehungsweise liberalistische Subjekt von der technischen und wissenschaftlichen Entwicklung restlos überrollt worden. Es hat vor der erdrückenden Übermacht gar keine andere Wahl als abzudanken. Übrigens auch vor der unsichtbaren Hand des freien Markts, denn auch dort haben die Algorithmen die endgültige Herrschaft angetreten und das mit Vernunft ausgestattete liberale Subjekt längst abgelöst, worauf der Philosoph Slavoj Zizek vor einiger Zeit mit subversivem Witz hingewiesen hat.
Wenn wir dem Dataismus, dem absoluten freien Datenfluss, nicht anheimfallen wollen, denn müssen wir, meint Hariri, einem künftigen "Techno-Humanismus" den Weg freischaufeln, also einer technischen Verbesserung des natürlichen Menschen, der am Ende seiner Karriere angelangt ist. Selbst wenn das wiederum auch nur der direkte Weg in den Transhumanismus ist, in die technische Datenausrüstung des Menschen.
9. April 2018