Partisanenkrieg um politische Korrektheit
1931 schrieb der deutsche Schriftsteller Siegfried Kracauer den scharfsinnigen Satz: "Es sind die depossedierten Mittelschichten, die rebellieren." Den Aufstand der Depossedierten oder Globalisierungsverlierer von heute hat der französische Philosoph Didier Eribon als eine "Art politischer Notwehr" bezeichnet. Die Geschichte wiederholt sich, auch deshalb, weil die Menschen aus ihr nichts lernen. Dummheit ist ein Extremismus. Kurz nach Veröffentlichung des Satzes von Kracauer schlug die Rebellion in grauenhaften Totalitarismus um.
Damals war die Weimarer Republik an ihr Ende gekommen. Heute haben wir den ähnlichen Eindruck, das Ende eine Epoche zu erleben. Die Welt befindet sich in einer fürchterlichen Lage, und was sich an der Wand abzeichnet, ist das Schreckgespenst der permanenten Repetition. Die Ereignisse in Aleppo sind so grauenhaft, dass sie jeden Glauben an die Menschheit zunichte machen.
Umsonst versuche ich zu verstehen, was falsch gelaufen ist. Haben Politiker, Medienleute, der Kommerz den falschen Weg eingeschlagen, und haben Wähler, Zuschauer, Konsumenten sie darin ermutigt? Ich kann nicht mehr so argumentieren wie vor zwanzig, dreissig Jahren, zu flottierend sind die Begriffe geworden, zu ungenau, um die sozialen und gesellschaftlichen Verhältnisse angemessen wiederzugeben. Mit Skepsis, mit Aufklärung ist in der fundamentalistischen Welt nichts mehr anzufangen.
Die Verständigung wird von Tag zu Tag schwieriger, weil die Sprache sich in viele Kampf- und Partisanensprachen territorialisiert hat. Was ist Terror und was Widerstand? Geht es uns immer besser oder vielen Menschen im Gegenteil immer schlechter? Zahllose indische Baumwollbauern machen Selbstmord, weil sie auf dem globalen Markt gegen die Agrar-Konzerne nicht bestehen können. Es ist eine Fake News, wenn durch mondialisierte Wirtschaft und Freihandelsverträge mehr Wohlstand versprochen wird. Wachstum ist der Name für gesellschaftliche Ungleichheit.
"Es kommt nicht auf Versöhnung an,
sondern auf Kontroverse und Divergenz."
Kaum ist eine Aussage gemacht, wird von der Kommunikationsindustrie eine kolossale Gegenpropaganda-Maschine in Bewegung gesetzt. Nicht alle Meinungen sind richtig, aber auch nicht alle falsch. Ob die Flasche halb voll oder halb leer ist, kann weder bewiesen noch entschieden werden. Wahrheit ist eine trügerische Behauptung, weil es nur situative Aussagen gibt. Erst die diskursive Austragung der Ansichten führt eine Klärung herbei, aber soweit gehen stellt ein Risiko dar. Man könnte gezwungen sein, zu neuen Einsichten gezwungen zu werden. Und so verurteilt man lieber, was andere sagen, als selbst eine Meinung zu vertreten.
Die Präsidentschaftswahlen in den USA haben gezeigt, wie leicht es ist, die Menschen massenhaft zu beeinflussen. Die elektronischen Massenkommunikations-Mittel haben eine Effizienz erreicht, die nichts Gutes verheisst. Warum wählen und abstimmen, wenn die Sicherheitsagenturen doch wissen, was wir morgen tun und denken werden. Die Konstruktion von verlässlichen Ergebnissen ist heute einfach zu bewerkstelligen. "Liken" genügt. Demokratie im Überwachungsstaat ist eine Farce.
Es ist gut vorstellbar, wie es weitergehen wird. Mehr und mehr nimmt das Denken ein sektiererisches Format an. Man glaubt, wovon man überzeugt ist beziehungsweise ist überzeugt vom eigenen Glauben. Und so weiter um die eigene Achse im Kreis. Davon kann man nur Schwindel kriegen.
Der Kampf um politische Korrektheit ist ein verbissener Partisanenkrieg und der Ausdruck von Dünkelhaftgkeit. Nicht allen gefällt alles. Mir auch nicht. Muss es auch nicht. Manchmal kann eine Aussage durch ihre Umkehrung auf ihre Plausibilität hin geprüft werden. Wer nicht die neueste Club- und Crowd-Meinung vertritt, ist deshalb noch lange kein Verschwörungstheoretiker, Fremdenfeind oder Hassverbreiter. Multikulturalität sei zum Beispiel "eine verleugnete, verkehrte, selbstreferentielle Form des Rassismus", bemerkte der Philosoph Slavoj Zizek in seinem so regelverstossenden wie streitlustigen "Plädoyer für die Intoleranz".
Zwischen den eingenommenen Positionen gibt es diverse Spielformen. Manchmal kann es um Universalismus gehen, manchmal um Kommunitarismus, um Weite und Enge, je nachdem; mal stehe ich mehr auf der einen Seite, mal mehr auf der anderen. Trotzdem treten laufend Probleme auf, die eine kategorische Stellungnahme erfordern. Wann und wann nicht? Hier liegt der Angelpunkt der Diskussion.
Die aktuelle Flüchtlingspolitik ist ein Fass ohne Boden, sie kann nicht so weitergehen. Das steht fest. Wer das sagt, muss dann aber konsequent auch höchste Corporate Social Responsibility einfordern und die liederliche Investitionspolitik des westlichen Kapitals in den armen Ländern und das skrupellose Paktieren mit Potentaten um profitable Geschäftsbedingungen verurteilen. Das ist das Mindeste.
Es geht nicht um Ausgleich, Kompromiss, Versöhnung, sondern im Gegenteil um Meinung gegen Meinung, um Divergenz, um Kritik und Kontroverse. Zulange haben wir um des Friedens willen geschwiegen. Jetzt müssen wir anfangen, offen, klar, unaufgeregt zu reden. Nichts wie los!
26. Dezember 2016
"Voraussetzung für Diktatur und Rebellion"
Die Voraussetzung einer jeden Diktatur ist die Schwächung oder gar Beseitigung der Mittelschicht. Kein Land kann in die Extreme – ob nach links oder rechts – abrutschen, wenn eine stabile, breite Mittelschicht die Gesellschaft verankert. Die berühmte "Schere" bei Einkommen und Vermögen ist die Voraussetzung für Diktatur und Rebellion.
Gemessen am Satz von Siegfried Kracauer stellt sich mir also eher die Frage, warum die Mittelschicht "depossediert". Die erwähnte Globalisierung ist eine der möglichen Antworten, aber kaum die alleinige; genau so wenig wie die übertriebene "political correctness", religiöser Wahn oder irgendwelche anderen einzelnen Gründe.
Die Globalisierung ist zwar sehr wohl mit ein entscheidender Grund, weil Einkommen und Vermögensverteilung zunehmend weltweit – nicht nur im Rahmen einer Nation – eine Rolle spielt. Die von "Links" angestrebte "Verteilungsgerechtigkeit" greift zunehmend in die Leistungsfähigkeit des Mittelstandes ein. Der kann sehr wohl die "Schwachen" einer Nation mittragen, aber nicht die der Welt. Wenn dann der "Schmerzdruck" zu gross wird, kann der Abwehrreflex letztlich nur von "Rechts" über Nationalismus und Abschottung erfolgen. Das erleben wir momentan.
Wir sind in der Schweiz dank vernünftigen Arbeitsgesetzen und einer zurückhaltenden Steuerpolitik den grossen, multinationalen Unternehmen gegenüber einerseits, unserer starken "Dualen Berufsbildung" andererseits wegen noch einigermassen verschont. Nicht nur Arbeitnehmende, sondern auch das Gewerbe ist auf die grossen Unternehmen angewiesen. Nur wenn die Politik es hinkriegt, beides stark zu erhalten, kann der "Sozialstaat" auch erhalten bleiben; trotz der Herausforderung der Überalterung wegen. Wie stark er bleiben kann, hängt aber nicht zuletzt davon ab, wieviel Einwanderung wir in unsere Sozialsysteme zulassen.
Peter Waldner, Basel