Warnung vor Workaholics – sie stempeln uns alle ab
Manchmal kann man spät nachts durch die Fenster in den Wohnungen Menschen vor dem Computer sitzen sehen. Pssst! Nicht stören. Sie arbeiten noch. Im Zug nach Biel oder Zürich haben sie den Laptop eingeschaltet und studieren Verträge, Pläne und Tabellen. Auch sie arbeiten. Kennen sie keinen Feierabend? Relaxen sie nie? Was veranlasst sie zu ihrem Verhalten?
Sind sie von morgens vor dem ersten Kaffee oder der ersten Zigarette bis abends nach dem letzten Whisky nur deshalb an der Arbeit, weil sie höchste Anforderungen erfüllen müssen, die an sie gestellt werden? Weil die Kaderposition, der berufliche Wettbewerb, der soziale Druck es verlangen?
Vielleicht muss ich mich, wenn ich das so hinstelle, an der eigenen Nase packen. Ich arbeite gern. Einmal in Fahrt gekommen, kann ich stundenlang am Schreiben bleiben, mit offenem Ausgang, bis ein immer noch besseres Ergebnis gelungen ist. Den Schreibenden hat Ernest Hemingway einmal geraten, mit der Arbeit erst dann aufzuhören, wenn feststeht, wie am nächsten Tag damit fortgefahren werden soll. Wenn er, Hemingway, soweit war, ging er fischen und schiessen. 1954 erhielt er den Literatur-Nobelpreis.
Arbeit kann unterhaltsam sein, wenn sie kreativ ist, doch ohne Ruhezeit geht es nicht. Entspannung, Erholung, unbekümmertes Nichtstun sind Phasen des Auftankens, der Besinnung. Es sind schöpferische Zeiten, wie das Tun durch Nicht-Tun als höchste Weisheit im Zen-Buddhismus.
Wenn aber Arbeit nur seriell und reproduktiv verrichtet wird? Man sollte noch einmal "Das Recht auf Faulheit" (1883 erschienen) von Paul Lafargue, dem Schwiegersohn von Karl Marx, der Arbeitswut als falsche Arbeitsethik auf Grund falscher Arbeitsverhältnisse kritisiert hat. Vielleicht hätte er von einer Pflicht zur Faulheit sprechen sollen, was heute noch aktueller wäre als damals, weil die Arbeit immer mehr wegrationalisiert, überflüssig gemacht und zu einem dubiosen Privileg wird. Ob die Arbeit tatsächlich ausgeht, ist eine offene Frage. Der amerikanische Soziologe Jeremy Rifkin meint jedenfalls, dass es sich so verhält.
Entweder wird von den Arbeitswütigen erwartet, dass sie jede Minute ihrer Lebenszeit für ihre Arbeitgeber hingeben – dann muss von äusserem Zwang gesprochen werden. Oder sie tun es freiwillig – dann liegt der Befund von innerer Zwanghaftigkeit vor, von Sucht und von Abhängigkeit wie unter Drogen, und man spricht von Workaholics. Der Duden hat den Begriff längst als Neologismus eingeführt und Wikipedia das Krankheitsbild beschrieben.
Der Banker, der kürzlich erklärte, er könne sich beim Aufwachen manchmal nicht mehr erinnern, in welcher Stadt er geschlafen habe, hat es vielleicht mit einem persönlichen Problem zu tun, aber er geniesst auch ein hohes Mass an Autorität. Er ist eine Führungspersönlichkeit. Ansehen, Macht, Einfluss sind damit verbunden, bis zum Glauben an die eigene Unersetzbarkeit.
Dass jeder Mensch tun darf, was er für gut findet, weil es seiner eigenen Entscheidung unterliegt – selbstverständlich. Jedenfalls in einem gewissen Rahmen. Wird diese vage Grenze überschritten, müssen ein paar Fragen an die Adresse dieser Arbeitsüchtigen gestellt werden.
Man sollte sich vor den Workaholics in Acht nehmen. Es ist fast unvermeidlich, dass sie durch ihren Eifer, Ehrgeiz und Einsatz anderen Menschen ihr Marschtempo, ihren persönlichen Stil, ihren Habitus, ihren Ideenhorizont, ihre Werte, ihren Willen diktieren, ungebeten, und zuletzt, wenn es schlimm kommt, die Welt in den Abgrund treiben, sage ich oder fürchte ich. Oder unterstelle ich einfach einmal.
17. Oktober 2011