Das Ende und der Neubeginn einer Epoche
Müssen wir die Werte der Aufklärung, der offenen Gesellschaft, der kritischen Meinungsfreiheit aufgeben? Auf keinen Fall. Aber es sieht manchmal so aus, als hätten wir Wichtigeres zu tun. Hat Rousseaus volonté générale ausgedient? Die Unversehrtheit des Privatlebens, noch so eine Redensart. Der gläserne Mensch ist keine Bedrohung, sondern eine Realität. Das Schlimmste ist die freiwillige Preisgabe der Intimität. Wer nicht auf der Party dabei ist, hat sich selber aufgegeben.
Die individuelle Entfaltung? Auch ein Störfaktor. Immer häufiger wird die konfuzianische Disziplin der Menschen in Asien zum Vorbild genommen. Der Ökonomismus – oder "Toyotismus", das "Empire" von Michael Hardt und Antonio Negri – ist tatsächlich ein Militarismus, nur nicht für alle Menschen in gleicher Weise.
Die autoritären Demokratien und wählbaren Diktaturen stehen vor der Tür. Was sage ich, sie haben sie schon aufgestossen. Wir brauchen keine Lukaschenkos, das "System Berlusconi" funktioniert viel effizienter. Nein, man muss nicht alles schlucken. Jawohl, man muss manchmal seinen Unmut herauslassen. "Zuviel Ärger, zu wenig Wut", las ich kürzlich auf einer Hauswand.
Vorläufig leben wir in einer illusionären Welt. Der englische Premierminister David Cameron lobte am World Economic Festival den wachsenden Wohlstand durch globalen Handel, aber liess die Millionen Arbeitslose in Europa, die Hartz IV-Empfänger, die aus Renbtabilitäsgründen Entlassenen, die Verhältnisse in den Pariser Vorstädte rechts liegen.
Viele Spitzenpolitiker leben so wie früher die sozialistische Nomenklatura in ihren Datschas. Sie stehen am Rednerpult der Erbaulichkeiten, referieren, repetieren und rezyklieren die alten Begriffe und haben keine Ahnung, wie es in der Welt aussieht. Cameron kann nur entgegengehalten werden, was das situationistische Manifest "Der kommende Aufstand" des anonymen französischen "Unsichtbaren Komitees" schreibt: "Es ist nicht die Ökonomie, die in der Krise ist, die Ökonomie ist die Krise" (als "Nautilus Flugschrift" im Buchhandel erhältlich). Das sehen die Börsenspekulanten bestimmt viel ausgewogener. Sie haben allen Grund.
Das Meiste, was wir kommunizieren, ist nichts als Beschwörung und Propaganda. Die Ursache vieler Probleme ist heute die pensée unique: Neo-Liberalismus, Ideologien aller Art, Religionen, Diktaturen mit ihren Stabilisierungsfunktionen, zum Beispiel in den armen Ländern, wo die Machthaber für ein investitionsfreundliches Klima sorgen. Öl gegen Repression. Bis es kracht.
Während ich diese Zeilen schreibe, sehe ich, wie allerorts die verkrusteten Verhältnisse aufbrechen. Die Grenzen fallen weg, die Welt entgrenzt sich und entwickelt sich zu einem Maquis, das ist die Realität der Globalisierung.
Alles kann jederzeit überall eintreten. Auch das Ungeheuerliche. In Tunesien haben die Menschen angefangen, sich gegen den Kolonialismus des internationalen Kapitals zu wehren – ausgerechnet dort!
Es scheint, als würden wir gegenwärtig die Geburtswehen eines neuen Zeitalters erleben, und niemand kann sagen, was kommen wird. Aber wir müssen uns auf allerlei gefasst machen, das ist sicher.
Der kommende Aufbruch – die "Multitude" von Hardt und Negri – wird schwierig sein, aber er wird die Zurückforderung der kreativen und innovativen Möglichkeiten und überraschenden Alternativen enthalten. Auch das ist sicher.
7. Februar 2011