Naher Osten: PR-Krieg an der Medienfront
Palästina hat in der vergangenen Woche den Beobachterstatus bei der UNO erhalten. Das ist nach langer Zeit ein kleiner Fortschritt und zugleich ein unübersehbares Zeichen, dass sich etwas bewegt.
Eine erste Voraussetzung, mit dem israelisch-palästinensischen Konflikt umzugehen, wäre es, ihn als Sprach- und Medienproblem zu verstehen. Regelmässig verübten die Palästinenser Terroranschläge und mit der selben Regelmässigkeit reagierte Israel darauf mit Vergeltungsschlägen. Wie wäre es aber, wenn es sich umgekehrt verhielte?
Man stelle sich vor, in den Nachrichten zu hören, dass Palästina Israel eine letzte Chance gegeben hätte, an den Verhandlungstisch zurückzukehren. Undenkbar! Mit der seit langem praktizierten Sprachregelung waren die Palästinenser die Täter und die Israelis die Opfer. Doch diese sowie die Grenze zwischen Terrorismus und Vergeltung ist eine sprachliche Konstruktion an der Medien- und Informationsfront und mühelos umkehrbar.
Edward Bernays, der Neffe Sigmund Freuds, hat gezeigt, wie wichtig es ist, die öffentliche Meinung zu beeinflussen – er sagt: sie zu "lenken". Israel beherrscht diese Kunst perfekt. Die Palästinenser sollten sie sobald wie möglich lernen und ebenfalls einsetzen. Denn die Kontroversen werden heute auf der Ebene der Public Relation entschieden.
Durch die UN-Resolution 181 wurde 1947 das britische Mandatsgebiet in Palästina zu 56 Prozent für einen Staat Israel und 44 Prozent für einen Staat Palästina vorgesehen. 1948 erfolgte die Gründung des Staates Israel. Von einem Staat Palästina ist dagegen bisher nichts zu sehen, wenn auch jüngst dazu ein Schritt getan worden ist.
1947-48 wurden 800'000 Palästinenser durch Massaker, Plünderung, Enteignung aus ihren angestammten Gebieten vertrieben. Die Palästinenser haben dafür den Begriff "Nakba" (Katastrophe). Der israelische, heute in Exeter lehrende Historiker Ilan Pappe, der vergangene Woche in Bern über seine historische Methode Auskunft gab, spricht von "Memorizid" (Auslöschung der Erinnerung) und "ethnischer Säuberung". Was damals geschah, lebt im Bewusstsein der Palästinenser nach. Dies zu verkennen, verhindert jede bessere Einsicht.
"Die Besatzung von Cis-Jordanien ist es,
die den Friedensprozess belastet."
Das Diktum des US-Präsidenten Obama vom Recht auf Selbstverteidigung Israels ist deshalb fehl am Platz, weil es niemand in Abrede stellt. Sinngemäss müsste es aber umgekehrt auch für die Palästinenser gelten. Doch seitdem diese versuchen, von diesem Recht Gebrauch zu machen, werden sie als Terroristen bezeichnet.
Dies trifft erst recht zu, seitdem die illegale und völkerrechtswidrige israelische Besatzung des Palästinensergebiets von Cis-Jordaniens unaufhaltsam voranschreitet, nur manchmal begleitet von einem lauen Vorwurf an die Adresse Israels, aber ohne Folgen.
Es ist gesagt worden, der Beobachterstatus Palästinas belaste den Friedensprozess. Die Besatzung Cis-Jordaniens nicht? Es ist gesagt worden, nur direkte Verhandlungen zwischen Israel und Palästina würden zu einer Regelung des Konflikts führen. Das hätte schon lange geschehen können. Es ist gesagt worden, Frieden könne es nur geben, wenn sowohl Israel als auch Palästina einer vertraglichen Lösung zustimmen. Der US-amerikanische, hoch respektierte politische Kritiker Noam Chomsky, der selber Jude ist, hat bemerkt, Israel versuche, jedes politische Abkommen mit Palästina zu blockieren und unterdessen vor Ort unauffällig vollendete Fakten zu schaffen, die im Interesse des Landes liegen.
Ich spreche hier über die Politik des Staates Israel und nicht von Juden. Ebenso spreche ich von Palästinensern und einem palästinensischen Staat und nicht von der Hamas und Hizbollah, deren Führer den Eindruck verblendeter Ideologen machen. Allerdings ist es durchaus möglich, Verständnis für ihre zunehmende Radikalisierung aufzubringen – nach jahrelangen vergeblichen Bemühungen um eine Einigung mit Israel.
Auch unter den Israelis gibt es vergleichbare radikale Gruppierungen und fundamentalistische Extremisten, zum Beispiel unter den religiösen Kolonisten und den Orthodoxen in Beit Shemesh und anderswo, die sich inzwischen als Bedrohung der demokratischen Öffentlichkeit herausgestellt haben.
Als Antwort auf die Aufnahme Palästinas als Beobachterstaat in die UNO hat Israel tags darauf den Bau weiterer 1'600 Wohnungen angekündigt. Das scheint die Analyse von Chomsky zu bestätigen. Wenn palästinensische Raketen als Terror bezeichnet werden, muss auch die israelische Besatzung als Gewaltanwendung verstanden werden. Die israelische Siedlungspolitik ist heute das Hindernis auf dem Weg zu einer Lösung des Nahost-Konflikts.
Israel braucht nicht noch mehr Raketenabwehrsysteme, Schutzmauern, Kampfroboter und Sicherheitstechnologien, sondern die Einsicht in die Notwendigkeit eines Friedens mit den Palästinensern. Davon hat die militärische Überlegenheit und die sprachliche Definitionshoheit Israel bisher abgehalten. Die Abstimmung in der UNO über die Palästina-Frage hat aber gezeigt, wie isoliert Israel ist.
Es geht daher nicht nur um die Zukunft Palästinas, sondern immer mehr auch um diejenige Israels.
3. Dezember 2012
"Likud – SVP hoch zwei"
Wie Sie erst am Schluss richtig schreiben, haben die Palästinenser den UN-Status als Beobachterstaat erhalten. Den Beobachterstatus hatten sie schon. Das gibt einer ideologisch und geographisch gespaltenen Bevölkerung eine fiktive Staatlichkeit, die es ihr ermöglicht, Israel vor internationalen Gerichtshöfen anzuklagen. Ob es einer realen Staatlichkeit hilft, wird man noch sehen. Ich hoffe es.
Ich bin zwar ein Freund Israels, aber nicht Netanjahus, und habe viele israelische Freunde, aber auch einige palästinensische. Netanjahu und sein Likud-Block (so etwas wie die SVP hoch zwei) haben es fertiggebracht, durch "Befriedung" (acht Meter hohe Mauer, aber auch durch die wirtschaftliche Entwicklung der "West Bank" oder Cis-Jordaniens, wie Sie es nennen) und erdrückendende Siedlungstätigkeit die öffentliche Debatte in Israel über das Schicksal der eroberten Gebiete – sie werden dort heute nur noch "die Gebiete" genannt – fast völlig zu ersticken. Die einzig ernstzunehmende oppositionelle Tageszeitung Haaretz hat weniger Abonnenten als es Beduinen in Israel gibt, eine winzige und kläglich dahinvegetierende Minderheit.
Hier noch ein paar Bemerkungen, um die Leser noch weiter zu verwirren.
- Cis-Jordanien (die West Bank) war ursprünglich Teil des British Mandate und wurde im Angriffskrieg aller arabischen Nachbarländer nach der Staatsgründung Israels von Jordanien erobert. Dort hat man die palästinensischen Flüchtlinge in winzigen Behausungen ohne Schatten oder Beschäftigung wie Hühner gehalten. Ich habe ein solches Lager 1969 bei Jericho gesehen und war entsetzt. Man muss dazu wissen, dass die Lebensmittellieferungen der UNRWA nicht direkt ausgeliefert wurden (auch in den anderen Ländern nicht), sondern über jordanische Behörden. Über die Jahrzehnte nahm die Zahl der Flüchtlinge regelmässig zu, Geburten wurden registriert, Todesfälle nicht.
- Die von Israel gezielt und immer noch nicht voll eingestandenen Vertriebenen zählten 1948 zwischen 450 000 und 800 000. Wahres "ethnic cleansing", das von jüngeren israelischen Historikern an den Tag gebracht und womit der "Gründungsmythos" Israels stark beschädigt wurde. Allerdings haben sich die Vertriebenen – ähnlich wie die Sudetendeutschen – irgendwie gemendelt, jedenfalls soll es heute von ihnen viele Millionen geben. Wie lange (oder bis in die wievielte Generation) ist man ein Vertriebener?
- Wie soll aus Gaza und der West Bank ein palästinensischer Staat werden? Ideologisch sind sie sich spinnefeind. Dazwischen liegt ein grosses Stück Israel. Gaza hat viele Jahre zu Ägypten gehört – warum nicht wieder? Ideologisch stehen sich die Machthaber ohnehin am nächsten, jedenfalls im Augenblick.
- Nach dem Sechs-Tage-Krieg 1967 verlor Israel die Unterstützung der Linken der Welt. Aus dem David war ein Goliath geworden. Das passte nicht mehr. Aber schon vorher hatte niemand bemerkt, dass im Staat Israel die Bevölkerung von Kibbutzim, die als sozialistische Mustersiedlungen galten, nie mehr als 4% der Gesamtbevölkerung ausmachte (obwohl sie in allen Kriegen die höchsten Verluste zu beklagen hatten).
- Ich selbst habe in Ost-Jerusalem und in der West Bank 1969 gesehen und gehört, dass Israel nach dem Krieg 1967 – trotz des geknickten arabischen Stolzes – letztlich als Befreier vom jordanischen Joch mit grossen Hoffnungen begrüsst wurde.
- Bis heute konnte sich Israel nicht entscheiden, was man mit der West Bank machen sollte (über die Golan-Höhen hatten man rasch beschlossen, sie nicht wieder herzugeben – aus strategisch leicht nachvollziehbaren Gründen). Es ist zwar ein unmoderner Gedanke, aber wer in einer halbwegs als Verteidigungskrieg zu rechtfertigenden militärischen Auseinandersetzung, weil er doch immerhin angegriffen wurde, Landgewinne macht, ist nicht einfach ohne zuverlässige Gegenleistung verpflichtet, diese zurückzugeben. Wenn es stimmt, hat einzig Olmert einmal Abbas ein Angebot gemacht, das halbwegs akzeptabel erschien. Abbas hat es nicht unterzeichnet. (An Ägypten hat Israel den ganzen Sinai zurückgegeben - gegen einen Frieden, der bis jetzt gehalten hat.)
- Das Elend der Nicht-Entscheidung zwischen Israel in den Grenzen vor 1967 und einem "Gross-Israel" und dem gleichzeitigen Fakten auf dem Boden Schaffen begann erstaunlich früh, nämlich als man die ersten "Wehrdörfer" entlang des Jordans und um die Grenzen der West Bank zu errichten begann. Aus jenen, die in der Nähe Israels lagen, haben sich diese riesigen, nicht mehr zu beseitigenden Settlements entwickelt, die den Palästinensern das Wasser nehmen (fruchtbares Land kaum, weil sie fast alle auf den unfruchtbaren Hügelkuppen liegen). Zu einem "Gross-Israel" hat es nie eine offizielle Entscheidung gegeben. Es bleibt eine Wurstelei, aber doch in diese Richtung.
- Allerdings geben diese Siedlungen und die fast fertige israelische Einkreisung Gross-Jerusalems durch Wohn- und andere Bauten (ich habe 2008 den irrwitzigen Bauwahn selbst gesehen) Anlass zu der Annahme, dass Israel keinen palästinensischen Staat neben sich dulden will oder wird, der (a) Jerusalem auch als Hauptstadt will, der (b) die Arrondierung des ursprünglich schmalen Streifens Israel rückgängig macht, oder der (c) irgendein Recht auf Rückkehr der Vertriebenen fordert. Das sind die "facts on the ground". Was bleibt da noch? Welcher palästinensische Führer kann darunter seine Unterschrift setzen, ohne sein Leben zu riskieren? (Hier käme noch die unehrliche Haltung der palästinsischen Führer gegenüber der eigenen Bevölkerung ins Spiel. Arafat war ein Meister der zweisprachigen Zweizüngigkeit.)
- Normalerweise könnten sich zwei Länder wie Israel und Rest-Palästina zu einer Konföderation vereinigen, von der beide Teile sehr profitieren würden (viele qualifizierte Palästinenser sind arbeitslos, aber Israel beschäftig aus Arbeitskräftemangel Leute aus Sri Lanka!) Da sich Israel aber als jüdischer Staat definiert, wird es den Apartheid-Zustand verlängern - bis er bricht, wie andere auch.
- Israel ist schon ziemlich lange isoliert (s.o.), aber es kümmert die meisten nicht. Im Gegenteil: Dieses Gefühl verstärkt den Selbstverteidigungsreflex.
- Die West Bank lebt weitgehend unbehelligt auf niedrigem, aber steigendem Niveau. Aus Gaza kamen tatsächlich Tausende von Raketen auf israelisches Gebiet. Das lieferte immer einen Vorwand für unverhältnismässige Gegenschläge – und wenn’s wieder anfängt, geht es einstweilen weiter so.
Aber eigentlich ist alles leider noch viel komplizierter, besonders, wenn man sich erinnert, dass durch das Sykes-Picot-Abkommen (1916) und die Balfour Declaration (1917) das Fell des Bären, nämlich das des Ottomanischen Reiches, schon verteilt wurde, ehe es einen eigentlichen Rechtsnachfolger gab. Aber das ist auch auf dem Balkan geschehen – mit ähnlichen Folgen einer unklaren Rechtssituation.
Schliesslich: Ja, es geht sogar mehr um die Zukunft Israels als jene der Palästinenser (Israel ist ja ein Teil Palästinas).
Thomas Richers, Minusio
"Scharfsinnige und hilfreiche Analyse"
Ich gratuliere zu dieser scharfsinnigen und hilfreichen Analyse und den hieraus gezogenen schlüssigen Thesen. Solches geht erst, wie gerade vorgeführt, wenn man versucht, das Ganze in den Blick zu nehmen statt im üblichen Modus – im "Entweder-Oder-Denkansatz" – stecken zu bleiben. Vielen Dank!
Bruno Rossi, Gelterkinden