Lesen ist Arbeit, die Vergnügen bereitet
Lesen ist eine alte Kulturtechnik, aber heute zählt sie kaum noch viel. Sie erübrigt sich, weil die Maschinen die Lektüre übernehmen und automatisch besorgen können. Zeit mit Lesen verbringen ist vergeudete Zeit. Finden viele Menschen. Wer will 800 Seiten für "Krieg und Frieden" oder 600 Seiten für den "Zauberberg" hergeben, wenn es ein Abstract auch tut? Kurz müssen die Mitteilungen sein, nicht mehr als 140 Zeichen. Damit kann man zwar ein Kommando durchgeben, zum Beispiel "Yes, we can" oder "Heute acht Uhr Bahnhof", aber niemals in eine fremde Welt eintauchen, wie das mit einem Buch möglich ist.
Das Effizienzdenken hat längst in den Kulturbetrieb Einzug gehalten. Wenn ein Text nur 691 (wie dieser) statt 6910 Wörter umfasst, ist das Lesen schneller besorgt, das ist wahr, aber sehr viel mitbekommen wird man nicht. Lesen ist ein entbehrlicher Luxus geworden.
Wer also glaubt, Lesebewandtnis zu zeigen oder auf eine Bibliothek hinzuweisen, sei ein Ausweis für eine besondere Leistung, der irrt sich gewaltig. Es ist auch tatsächlich kein Ausweis für irgendetwas, weil Lesen ein freiwilliger Akt ist. Aber es stimmt schon, Lesen ist heute nicht sehr sexy, und Bücher sind, wie man sich in den Möbelgeschäften überzeugen kann, reine Dekorationsartikel. Niemand bewahrt Bücher auf. Bibliotheken sind Staubfänger und sie nehmen Platz ein, der sich vorteilhafter ausnützen lässt.
"Wer liest, klinkt sich
aus der Gesellschaft aus und ist bei sich."
Bücher als Wissensvermittlung, das ist eine andere Frage. Aber googeln vermittelt Sachwissen genau so gut, so schnell und so preiswert wie ein Print-Werk. Wie das Wissen bei den Google-Göttern gewertet und verbreitet wird, bleibt bekanntlich ein Geheimnis. Die Ideologie der Selektion ist Menschensteuerung, über die sich kaum jemand aufregt.
Ein Buch in der Bibliothek dagegen ist ein direkter und dezidierter Zugang zu einem bestimmten Wissensbereich, zum Beispiel zum "Wohlstand der Nationen" oder dem "Anti-Ödipus", aber auch zu literarischen Werken wie dem "Buch der Lieder" oder "Madame Bovary", in das man sich hineinbegibt, wie man zu einer langen Reise mit ungewissem Ausgang in ein fernes Land aufbricht.
Das Lesen und der Umgang mit Büchern ist heute von vielen Vorurteilen begleitet. Trotzdem gibt es noch ein paar aufrechte Leser und Leserinnen, wahrscheinlich mehr, als die Verächter meinen. An sie denke ich, wenn ich diese Zeilen schreibe.
Wer liest, klinkt sich aus der Welt der Geschäfte und Aufregungen aus und bleibt bei sich, gewiss nur für eine beschränkte Zeit, aber immerhin. Ich lese, also bin ich. Und nicht nur das. Ich lese, also lerne ich die Welt kennen, die hinter der faktischen Welt verborgen liegt. Das Geheimnis liegt ja nicht nur darin, etwas zu wissen, etwas zu verstehen, sondern das Gewusste mit anderem Gewussten zu verlinken und das, was es zu verstehen gibt, zu erweitern wie ein sich in alle Richtungen ausbreitendes Netz. In diesem Sinn können Bibliotheken als exkorporiertes Gehirn des Lesenden interpretiert werden.
Jedes gelesene Buch ist eine Erinnerung an einen expliziten Moment im Leben. Bücher haben mich durch die Jahre begleitet. Zum Beispiel erinnere ich mich, wie ich in einem einsamen Haus in Afrika das "System der Natur", das grossartige Grundlagenwerk des Materialismus, geschrieben 1770 vom Baron von Holbach, gelesen habe, und wenn ich zwischendurch innehielt und aus dem Fenster schaute, sah ich in der Ferne den Kilimandscharo, abends knackte das Wellblechdach, wenn die Hitze des Tages nachliess, und ich musste nur noch den Ort und das Gelesene koordinieren, um meine Lage zu verstehen. (Mit "Materialismus“" ist hier gemeint, dass alles Geschehen auf eine genau bestimmbare Ursache zurückgeht und nicht vom Himmel auf den Kopf fällt.)
Ein Buch, das mich durch das Leben begleitet hat, ist der Bericht "Walden oder Hüttenleben im Walde" des amerikanischen Transzendentalisten-Autors Henry David Thoreau, der darin die von 1845 bis 1847 verbrachte Zeit in einem selbst gebauten Blockhaus ("cabin") am Walden Pond bei Concord, Massachusetts, beschreibt. Ich habe daraus gelernt, wie sehr es darauf ankommt, sich nicht von den Dummheiten des geschäftlichen Lebens ablenken zu lassen, sondern sich auf das als essentiell Erkannte zu besinnen und auf das, worin der selbst bestimmte Sinn des Lebens liegt.
Es geht nicht darum, Thoreaus Lebenseinstellung wie ein gläubiger Adept nachzubeten, sondern selbständig durch Nachdenken und Üben einen eigenen Weg zu finden, der mit dem Lebensweg identisch ist. Bücher können dabei eine einzigartige Hilfe leisten.
31. Oktober 2016
"Wunderbar formuliert"
Hier in Barcelona gibt es noch ein paar von den einst zahlreichen verwinkelten Bücherschluchten, in denen Leute Stunden verbringen, um eben Bücher, die sie lesen möchten, zu finden. Natürlich existieren auch die anderen, diese mit Café oder Bocadillo-Angeboten sowie ein paar bequemen Sesseln sich den "Interessierten" als Aufenthaltsort anbietenden – natürlich durchsichtig arrangiert mit aktiver oder auch aktivpassiver Konsumbeeinflussung – Allerwelts-Händlereinrichtungen. In Paris nannte man das ins den Sechziger- und Siebzigerjahren Drugstore...
Quasi von diesem Äusseren nach innen stelle ich aber immer wieder mit Verwunderung fast, dass es viel mehr Leserinnen und Leser gibt, welche in der Öffentlichkeit Bücher lesen, als man so hört und bejammernd vorgesprochen erhält. Das ist mir jahrelang schon in Berlin aufgefallen, in den S- und den U-Bahnzügen vor allem. Hier fällt auf, dass zahlreiche Metro-Fahrgäste lesen, und zwar nicht Zeitungen, sondern Bücher. In den Bahnen wird viel geredet, das fällt natürlich zuerst auf. Und dann entdeckt man: Da wird auch viel gelesen.
Ob das Zeitalter, in dem man Bücher liest, zu Ende geht, kann ich nicht beurteilen. Allerdings: Zu Ende geht, wenn schon, vermutlich das Zeitalter der so genannten Printmedien. Aber: Ein Buch und eine x-bliebige Zeitung sind schon nicht ein und dasselbe, abgesehen von der Tatsache, dass beide Medien gedruckt werden.
Du schreibst es, wunderbar formuliert: "Wer liest, klinkt sich aus der Welt der Geschäfte und Aufregungen aus und bleibt bei sich…" So ist es.
Was ich gerade lese respektive gerade eben gelesen habe?
- Alan Bennett: Leben wie andere Leute. Eine Art Familiengeschichte, die auch deshalb gut tut, weil man dann Brexit und das viele Geschwätz darüber etwas vergessen kann!
- Marina Caba Raul: Esperanza (ein wunderbarer Debut-Roman einer spanischdeutschen Schriftstellerin über (wohl ihre) Muttersfamiliengeschchte.
- Steven Pinker, Gewalt - eine neue Gechichte der Menschheit (ziemlich dick, ziemlich viel Statistik, aber auch interessante Querverbindungen)
- Lukas Bärfuss, Koala
- Imre Kertész, Detektivgeschichte und
- Mario Vargas Llosa, die Enthüllung (nun ja, es schreibt nicht jeder Nobelpreisträger nur Meisterwerke…)
Alois-Karl Hürlimann, Barcelona
"Sehr wertvolle Kolumne"
Das ist – einmal mehr – eine wunderbare, sehr wertvolle Kolumne, für die ich Ihnen nicht genug danken kann! Ich bin mit jedem Ihrer Worte völlig einverstanden und möchte allen Menschen dringend raten, sich immer wieder dem Lesen zu widmen. Wie Sie richtig schreiben, taucht man beim Lesen – vorübergehend – in eine andere Welt ab, aus der man immer wieder Erkenntnisse für selbst Erlebtes gewinnt.
Mir geht es zur Zeit zum Beispiel so mit der Neapolitaner Tetralogie "L'amica geniale" von Elena Ferrante – und beim (fast nicht zu bremsenden) Verschlingen des italienischen Originals ergeben sich für mich neben der zutiefst berührenden Geschichte und der begeisternden literarischen Leistung Ferrantes (wer sich hinter dem Pseudonym versteckt, ist aus meiner Sicht gänzlich unwichtig, und das unwürdige Trari trara des italienischen Investigativjournalisten Claudio Gatti entpuppt sich ja auch glücklicherweise als folgenlos) zwei grosse Vorteile: Ich poliere mein Italienisch auf und kann die ganze Geschichte, deren Bände 2 bis 4 erst nach und nach auf Deutsch erscheinen werden, in einem Zug lesen, aufnehmen.
Und sie haben Recht: Immer werde ich im Zusammenhang mit "L’amica geniale" an Elba denken, wo ich bei spätsommerlicher und nachher herbstlicher Witterung mit der Lektüre begann, und an den Coop in Portoferraio oder Capoliveri, wo Ferrantes Bücher als preiswerte Paperback-Ausgaben verfügbar sind.
Florian Suter, Basel
"Grandios"
Grandios. Grosses Kompliment.
Angi Egli-Petignat, Basel