Die schöne Fassade der Wohlanständigkeit
Was wir heute feststellen können, ist eine tief verwurzelte Abneigung, über Themen zu diskutieren, die nicht in den Rahmen der politischen Korrektheit passen. Aber wer zieht diesen Rahmen? Das ist das grosse Rätsel. Spielregeln haben sich eingebürgert, die nicht mehr hinterfragt werden, nicht einmal mehr hinterfragt werden dürfen, weil sonst die schöne Fassade der Wohlanständigkeit zerbrechen könnte.
Die Korrekten wollen alles Vorfallende in Schubladen versorgen, das Schlechte, Falsche, Unpassende in die unterste, weit weg, das Gute, Wahre, Schöne, Richtige, Anständige in die oberste, griffbereit. So geht es aber nicht. Es gibt nicht nur Schwarz und Weiss. Das meiste ist grau.
Am vorteilhaftesten ist es für eine offene Gesellschaft, über alle Themen, auch die angeblich anstössigen, frei heraus zu sprechen. So liesse sich die beste Antwort am ehesten herausfinden.
Als Günter Grass Israel wegen seiner möglichen Pläne, den Iran anzugreifen, kritisierte, erhob sich ein Sturm der Entrüstung, der höchste Verwunderung auslöste. Vielleicht hatte Grass unrecht, vielleicht aber auch recht. Wer weiss. Aber eine Meinung muss er haben dürfen. Den richtigen Ausgang kann erst der Verlauf der Diskussion ergeben. Aber noch bevor das erste Wort gesprochen ist, haben die Linienrichter den Parcours abgesteckt. Ein Schritt daneben, und Du bist draussen, relegiert, disqualifiziert.
Das Gleiche bei Sarrazin, wenn er die demografische Entwicklung in Deutschland in Frage stellt. Das Gleiche bei Nathalie Rickli, wenn sie über "zuviele Deutsche in der Schweiz" spricht. Wenn ihre Ansichten abwegig sein sollten, dann müsste es ein Leichtes sein, sie zu widerlegen. Mit Moral ist das nicht zu erreichen.
Niemand kann den Ausgang einer Diskussion voraussehen, aber niemand ihn im voraus auch festlegen. Man muss zuerst am Ziel angekommen sein, um den Weg zu kennen. Die Karte ist nicht das Terrain.
Was wir aus alledem heute ebenfalls ableiten können, ist die Beobachtung, wie aus den harmoniebedürftigen Korrektheitsvorschriften zuerst aus lauter Nettigkeit eine schleichende Verfälschung der Begriffe und danach eine kaum wahrgenommene Form der Zensur entsteht. Nur ja keine unpassenden, Unruhe stiftenden Themen. Deckel drauf. Ruhe im Stall. So hört es sich an. Dass die sozialen Medien den Konformitätsdruck noch steigern werden, ist absehbar. Was uns droht, könnte eine Einheitsmeinung mit einem Stacheldrahtverhau darum herum sein zur Einfriedung nach innen und Ordnung nach aussen. Ansätze dazu lassen sich leicht beobachten.
Die Aufrechten und Korrekten haben längst ein Repertoire von Einwänden zurechtgelegt, um störende Diskussionen abzuklemmen: Antisemitismus, Islamophobie, Sexismus, Rassismus, Xenophobie, Alarmismus. Moralische Empörung verfehlt auch heute selten ihr Ziel (wer empört ist, kann sich nicht irren). In der Vergangenheit konnten unpassende Vorstellungen gern als wirtschafts- oder armeefeindlich zurückgewiesen werden, was heute nicht mehr so einfach ist (dafür geht die Polizei ordnungsgemäss gegen "Occupy" und "Blockupy" vor).
Beliebt ist es auch, Ansichten, Meinungen, Themen, die von der korrekten Agenda abweichen, als populistisch abzulehnen. Natürlich ist der Biertisch kein hoch geachtetes Ideenlabor, aber der Populismusvorwurf ist auch nur ein Ablehnungsautomatismus. Was unterdessen an dringenden Themen auf der Strecke bleibt, darüber wollen wir nicht reden.
Am Ende zu einer Art Ausgewogenheit kommen zu wollen, kann keineswegs das Ziel sein. Manchmal tut es unheimlich gut, Dampf abzulassen und seine Meinung in die Welt zu schleudern. Das Ende des Lieds ist das nicht.
Eine andere Melodie könnte und dürfte es aber ohne weiteres sein. Den Meinungswettstreit nicht als Gladiatorenkampf im Kolosseum und in diversen Arenen zu betrachten, sondern als sportliche Disziplin – warum eigentlich nicht?
4. Juni 2012
"Echte Probleme bitte höher priorisieren"
Eine interessante Idee von Aurel Schmidt: Meinungswettstreit als sportliche Disziplin. Die Goldmedaille gebührt aber meines Erachtens nicht dem gewieftesten Rhetoriker oder der begnadetsten Rednerin, sondern derjenigen Person, die den besten Vorschlag zur Lösung des diskutierten Problems auf den Tisch legt. Für die Diskussion aber bitteschön die effektiven und grossen Probleme höher priorisieren als die vermeintlichen und kleinen, die häufig gar keine eigentlichen Probleme sind. Huch, war das etwa schon politisch unkorrekt? Hoffentlich!
Peter Berlepsch, Basel
"Wir werden bald ein Wahrheitsministerium haben"
Aurel Schmidt kann ich nur beipflichten. Mit Sorge sehe ich, wie durchaus diskussionsfähige Themen sofort abgeklemmt werden. Die Medien und die meisten Parteien folgen einem Mainstream, der die Themen vorgibt. Diskussion ist nicht erwünscht. Das geht von Mobilfunk (Inserate!) über Atomstrom (gestern gut, heute böse) bis zu den arabischen Revolutionen, wo die einen böse Diktatoren sind, die andern, ebenso Repressiven, aber gute Diktatoren.
Wir werden wie bei Orwell bald ein Wahrheitsministerium haben, das alle Begriffe ins Gegenteil verkehrt. Viele Medien und Regierungen praktizieren das bereits, um nur ein Beispiel zu nennen: Krieg ist Frieden. Die "humanitären" Einsätze lassen grüssen.
Alexandra Nogawa, Basel