Manchmal sind Risiken unumgänglich, aber wann?
Ein unverdächtiges Beispiel, um anzufangen. Im 19. Jahrhundert gaben in den Salons, den grossen offiziellen Kunstausstellungen in Frankreich, die sogenannten Pompiers den Ton an. Das waren die Maler des bürgerlichen Realismus, die gern Generäle und Soldaten mit goldglänzenden Helmen malten, daher die Spottbezeichnung. Es durften auch ein paar nackte orientalische Sklavinnen sein, um den Geschmack der Zeit zu befriedigen. William Adolphe Bouguereau war der grösste Repräsentant seiner Epoche.
Und heute? Alles Kunstgeschichte. Die Neuerer mussten ein kümmerliches Dasein fristen. Erst Jahrzehnte später wurde ihre Bedeutung erkannt, etwa die von Edgar Degas, dessen späte Monotypien sensationelle Kunstwerke sind. Jetzt konnte in den Museen mit dem Umhängen begonnen werden.
Das heisst: Die jüngste Novität, die neueste Errungenschaft oder Einsicht kann unversehens zum kalten Kaffee von morgen werden.
Keine Epoche kann sich selbst beurteilen. Was heute weit oben rangiert, wird möglicherweise von den kommenden Generationen herunter geholt und ganz anders beurteilt. Wir sind heute gescheiter als die Menschen früher (oder glauben, es zu sein), aber die Menschen in der Vergangenheit waren nicht dümmer. Nur die Verhältnisse waren anders.
Heute sind wir ziemlich überheblich darin, frühere Generationen zu beurteilen und ihnen vorzuwerfen, was sie alles falsch gemacht haben. Wir selber machen alles richtig, weil wir dazu gelernt haben, meinen wir.
Die Zeiten ändern sich und mit ihnen die Ideen, die Stile, die Geschmacksvorstellungen, die Mentalitäten, die Prioritäten, die Notwendigkeiten, die Umstände, die Erkenntnisse. Zur Zeit können wir in der Politik erleben, wie jeden Tag alte Probleme gelöst und dabei neue geschaffen werden, für die neue Rettungsschirme aufgespannt werden müssen – und wie im selben Mass die Katastrophenmeldungen in immer schnellerer Kadenz eintreffen.
Wir wiederholen die alten Fehler nicht mehr. Wir machen lauter neue Fehler. Ist das Fortschritt?
DDT oder Penicillin sollten einmal alle Probleme lösen. Es war ein Fehlschluss. Atomstrom wurde als sauber, also unbedenklich angesehen. Inzwischen kennen wir die Risiken und die hinausgeschobenen Probleme der Endlagerung. Wir setzen auf Fotovoltaik, aber niemand kann sagen, ob sich in zwanzig, dreissig, fünfzig Jahren nachteilige Folgen herausstellen werden.
Trotzdem muss es möglich sein zu handeln, trotz aller möglichen Fehlentscheidungen und Risiken. Die Frage ist nur, wie wir dabei vorgehen.
Werden Risiken leichtsinnig eingegangen, oft deshalb, weil enorme Kapitalinteressen involviert sind (wie zuletzt im Fall UBS), ist das inakzeptabel. Es ist liederlich, unter Umständen auch ökonomisch nachteilig. In solchen Fällen ist jede Skepsis machtlos.
Wenn jedoch mit grösster Sorgfalt und Verantwortung vorgegangen wird, dann ist es gar nicht anders möglich, als ein Risikopotenzial hinzunehmen. Andernfalls würden wir noch heute als Troglodyten leben.
Das notwendige Abwägen aller Faktoren bleibt dabei ein unverzichtbarer Imperativ. Das Recht auf Irrtum kann deswegen nicht widerrufen werden, und manchmal kann der Fall eintreten, dass wir unsere Ansichten ändern müssen, lieber früher als später. Was wir lernen müssen, ist, bewusst damit zu leben.
26. September 2011
"Scharfsinnige und kausale Denkweise"
Ich bewundere immer wieder, wie realistisch und zutreffend die Aussagen von Aurel Schmidt sind. Mit seiner scharfsinnigen und kausalen Denkweise macht er immer wieder auf Punkte aufmerksam, die man gerne vergisst! Es gibt eben kein Leben ohne Risiko. Das schöne Sprichwort sagt ja auch "Wer nichts wagt, gewinnt auch nichts!"
Heinz Jäggi, Buus