Eine andere Schweiz, ein anderes Europa
Das "Non" der Franzosen und "Nee" der Niederländer zur EU-Verfassung war beinahe so etwas wie ein Sieg der Demokratie über den Neoliberalismus. Fragt die Menschen, was sie erwarten, und sie werden eine Antwort geben, die an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig lässt!
Was sie ablehnen, ist ein Europa nach den Vorstellungen der Staatsmänner, der Schröder, Chirac, Barroso, die an einem Gebilde laborieren, dessen wuchernde Probleme durch immer neue, noch grössere Probleme ersetzt, aber nicht gelöst werden. Es ist ein Europa, in dem die sozialen Unterschiede umso krasser ausfallen, je mehr von Aufschwung, Wachstum, Fortschritt die Rede ist. Die Wirklichkeit sieht ganz anders aus. Günter Grass hat kürzlich sinngemäss die Politik "nach Börsenmass" kritisiert und gesagt, die Abgeordneten seien "nicht mehr frei in ihren Entschlüssen". Die Staatsmänner genau so wenig.
Das gegenwärtige Europa entwickelt sich zu einer Wirtschafts-Herrschaft, in der die Regierenden die an sie gestellten Forderungen des Patronats erfüllen. Die Willfährigkeit verdecken sie mit europäischen Rhetoriken und Planspielen. Mit den Menschen haben ihre Beschlüsse wenig zu tun, mit dem Interessen-Management einer Minderheit sehr viel. Die Menschen sind nur ein Alibi. Kaum hat das Schweizer "Volk" AHV-Abbau und Mietrechtsrevision abgelehnt, tischt Bundesrat Hand Rudolf Merz die Steuerreform II für Reiche und Kapitalbesitzer auf.
Werden die Menschen aber doch einmal, wie eben in Frankreich und Holland, um ihre Meinung gefragt, darf man sich nicht wundern. Die erteilte Antwort hat nichts mit "Angst vor der Zukunft" zu tun, sondern ist als politischer Wille zu verstehen für ein anderes Europa und eine andere Schweiz, mit Kultur, Innovation, sozialen Standards, persönlicher Entfaltung als Priorität anstatt Börse, Konsum und Event.
Das scheint etwas zu sein, das Bundesrat Pascal Couchepin nicht begriffen hat, als er kürzlich die alternative beziehungsweise Komplementärmedizin aus der Grundversicherung kippte. Angeblich, weil sie weder wirksam noch wissenschaftlich sei. Aber welchen wissenschaftlichen Anforderungen entspricht denn etwa das Nebenwirkungs-Rheumamittel "Vioxx"?
Couchepin übersieht, dass die Wissenschaft durchaus Erfolge zu verzeichnen hat, jedoch auf der anderen Seite eine beschränkte Sichtweise ist, wenn es darum geht, den Menschen ganzheitlich zu verstehen. Sie lässt nur gelten, was durch ihren Raster geht, und der ist bekanntlich ein willkürliches Kriterium. Die Medizin, die Couchepin meint, ist so etwas wie eine Reparaturwerkstätte, in die die Maschine "Mensch", wenn sie defekt ist, zum Flicken gebracht wird. Das aber ist aus heutige Sicht eine rückständige Auffassung, während die Komplementärmedizin sich auf ein umfassendes Verständnis des Menschen beruft.
Mit seinem Entscheid hat Couchepin sich auf den selben Standpunkt gestellt wie die europäischen Staatsmänner, die ihre Visionen mit den Interessen der Profitgesellschaft beziehungsweise, in seinem Fall, der Schulmedizin und chemischen Grossindustrie verwechseln und die Erwartungen und Bedürfnisse der Menschen links liegen lassen.
13. Juni 2005
"Wir wollen keinen Departementskönig"
Aurel Schmidt erweitert in seiner Darstellung den Gesichtskreis in hervorragender Weise und deckt dadurch auf, dass es sich um ein Prinzip der rücksichtslosen Behörden-Wirtschafts-Machtconnection handelt - sei es in Europa bei Verfassungsentscheiden, sei es bei Herrn Couchepin, wenn er gegen die Komplementärmedizin entscheidet. Die Untersuchungen aller Arztpraxen in der Schweiz ergab, dass die Kosten pro Patient und Jahr bei Komplementärmedizinischen Aerzten mehr als 20 Prozent tiefer lagen als bei Schulmedizinern. Die Publikation dieser Ergebnisse aber wird bei Strafe verboten und dazu wird schamlos behauptet, dass durch die Streichung der Komplementärmedizin in der Grundversicherung Kosten gespart würden.
Gehen Sie heim ins Wallis, Herr Couchepin! Wir können Sie in Bern nicht brauchen, denn wir wollen eine transparente und ehrliche Informationspolitik der Behörden und nicht eigenmächtige Entscheide eines selbsternannten Departementskönigs. Es ist Ihnen entgangen, dass wir in einem demokratischen Land leben, wo die Freiheit für einen selbstverantwortlichen Bürger (und Patienten) möglichst gross sein soll. Herr Schmidt aber sei herzlich gedankt; seine erweiterten Betrachtungen haben eine hervorragende Bedeutung, wennn es um Entscheide in europäischen Belangen gehen wird.
Martin Schüpbach, Präsident "ffg-forum für Ganzheitsmedizin", Dornach
"Staat soll Erwartungen und Bedürfnisse der Menschen befriedigen"
Wieder einmal muss der böse Neoliberalismus den Kopf herhalten für die Probleme, an denen unsere Gesellschaft krankt. Wie immer Herr Schmidt den Begriff auch versteht, missversteht er ihn. Der Neoliberalismus ist keine einheitliche Schule, aber als Feindbild für den „sozialen Europäer“ eignet er sich vortrefflich. Die Zitation von Grass passt gut in dieses Schema hinein.
Den Bürgern Europas schwebt tatsächlich ein anderes Europa vor, als das Europa der Technokraten und der intellektuellen Eliten. Herr Schmidt interpretiert die Referenden aber einseitig als politischer Wille zur Gestaltung eines sozialen Europas. Die Briten und Dänen sind jedoch aus anderen Motiven europaskeptisch. Sie bestehen auf der eigenen nationalen Identität und lehnen einen Souveränitätsverlust an Brüssel ab. Aus denselben Gründen wollen die Schweizer einem EU-Beitritt nicht zustimmen - und nicht, weil Europa zu wenig sozial ist.
Bezeichnend ist, dass die Kultur auf der Prioritätenliste von Herrn Schmidt an erster Stelle steht - Verirrung eines weiteren intellektuellen Europäers? Persönliche Entfaltung, also das Gestalten des eigenen Lebens und die Erfüllung der persönlichen Wünsche, hat doch gerade mit Arbeit, Konsum und Event zu tun!
Aus meiner Sicht kann es nicht die Aufgabe des Staates sein, den Bürger ganzheitlich zu verstehen und zu versorgen, sowie die Erwartungen und Bedürfnisse der Menschen zu befriedigen. Fragen sie die Leute auf der Strasse, was sie wollen, so hören sie: Arbeit, Sicherheit und dass mir der Staat nicht zuviel aus dem Portemonnaie nimmt.
Michael Rossi, Präsident Jungliberale Basel-Stadt, Basel
"Gefragt ist eine breite Bewegung von unten"
Aurel Schmidt trifft den Nagel auf den Kopf. Es geht den Menschen nicht um ein Ja oder Nein zu Europa, wie die Apparatschiks uns für dumm Gehaltenen immer einreden wollen, sondern darum, was für ein Europa wir wollen. Die beiden Nein aus Frankreich und den Niederlanden zeigen, dass ein von oben aufoktroyiertes Europa die Europäerinnen und Europäer nicht zu überzeugen vermag. Unter anderem, weil die massgebenden PolitikerInnen fast ausnahmslos nur mehr als Marionetten eines globalisierten Grosskapitals auftreten, welches weltweit nach dem Motto "Dividende et impera" darüber entscheidet, wo etwa Arbeitsplätze ab- oder aufgebaut oder wo Kriege geführt werden. Längst spielt es doch keine Rolle mehr, ob ein Schröder, eine Merkel, ein Blair, ein Chirac oder wer weiss ich gerade am Ruder(n) ist - der Unsinn ist in etwa immer derselbe. Gefragt ist eine breite Bewegung von unten, à la "Wir sind Europa!" (oder besser noch "die Welt!"). Das ist im Kommen, aber bis zum Ziel wird es noch ein langer Weg sein.
Dieter Stumpf, Basel