Meine Meinung: keine Ahnung!
Alle wissen es besser, alle posten, belehren, sind empört, haben Statistiken zur Hand, die alles beweisen. Sie zitieren Experten, Fachmenschen, Spezialisten und andere, die den Stein des Weisen gefunden haben wollen. Und sie widersprechen sich entsprechend, denn all die stichhaltigen Beweise sind zumeist herbeigeredet, weil herbeigesehnt, von den je nach Situation eifrig Argumentierenden. Es gibt viele Steine, viele Weise. Eine Ahnung hat keiner und keine. Aber eine Meinung, die haben wir alle.
"Warum Masken wirkungslos sind", "Warum eine Maskenpflicht unerlässlich ist", "Warum Impfungen nichts nützen", "Warum geimpft werden muss". Danach "Weil". "Weil nur so …". Es ist immer "weil nur so". Und auf "Weil" folgt dann endlich "Wann". Wann ist endlich Schluss mit dieser Pandemie? Mit den Ängsten, der Unsicherheit? Denn die Schlagzeile, die wir alle wollen, lautet: "Wann diese Pandemie überstanden sein wird". Wir wollen wissen, wir wollen das "Wann". Aber wir wissen nichts. Niemand. "Warum es Gott gibt", "Warum es keinen Gott gibt".
Eine Meinung haben und doch keine Ahnung, das ist gelebte Demokratie im Alltag. Würden die, die keine Ahnung haben, schweigen, würde keiner mehr sprechen. Die Meinungsäusserungsfreiheit ist nicht an Wissen gebunden. Wäre es nicht gestattet, groteske Meinungen zu äussern, hätten die USA noch grössere Probleme. Oder eines weniger, aber lassen wir das.
"Beim Kopftuch-Verbot kommen dann
plötzlich alle draus."
Die Demokratie lebt davon, dass wir uns eine Meinung bilden, auch wenn wir nichts verstanden haben. Wir tragen ein paar Fakten zusammen, Zweitmeinungen vielleicht, wir lesen die Zeitung, zappen durch Online-News, schauen Nachrichten, die "Arena" vielleicht. Wir kennen eine Politikerin, der wir vertrauen, und nehmen an, dass das, was sie empfiehlt, schon so stimmen wird.
Wer abstimmt in einer Direkten Demokratie, entscheidet über komplexe Themen. Wer versteht zum Beispiel etwas von Unternehmenssteuer-Reform und Patentbox? Aber beim Kopftuch-Verbot kommen dann plötzlich alle draus und wissen, dass mit dem Kopftuch Frauen unterdrückt werden. Entweder von denen, die die Burka verbieten, oder von denen, die sie vorschreiben. Keine Ahnung haben immer die, die anderer Meinung sind.
Die Meinungsäusserungsfreiheit dient der Meinungsbildung. Wir diskutieren und begründen. Diskussionen sind Open Source, Begründungen werden übernommen, weiterentwickelt, verworfen, angepasst. Daraus entsteht eine Bewegung, ein Common Sense, und schliesslich ein Abstimmungs- oder Wahlresultat. Es ist unerlässlich, dass Meinungen geäussert werden, gehört werden und aufeinander prallen. Die Direkte Demokratie lebt von Entscheiden, die Leute trafen, die keine Ahnung hatten, sich aber eine Meinung bildeten, denn sie gingen abstimmen oder mussten regieren.
Auch Regierung und Parlament haben keine Ahnung, und müssen doch eine Meinung haben, denn ohne lässt es sich nicht regieren. Sie sammeln Wissen, Fakten, ziehen Schlüsse und verfügen schliesslich. Und so dürfen Grosseltern zu Pandemiezeiten einmal ihre Grosskinder nicht sehen, und – zack! – wieder umarmen.
Das Volk schreit auf, kann ja nicht sein, pure Willkür. Ist es aber nicht, sondern bloss die Folge davon, dass sich jemand, der keine Ahnung hatte, eine Meinung bilden musste, und mit dem Sammeln weiteren Wissens seine Meinung anpasste. Und auch den Mut hatte, dies öffentlich zu tun, wohl wissend, dass er dafür zur Schnecke gemacht werden kann. Danke, Herr Koch.
Wenn ich so sehe, wie alle Kinder heutzutage nur noch mit Helm, Kinnschutz, Handgelenk- und Knieschonern auf dem Dreirad sitzen oder Rollschuh fahren, dann ist "better safe than sorry" auch das, was die Bevölkerung will. "No risk, no fun" gilt nicht für diese SUV-Generation. Erstmal lieber nicht in die Kita und nicht zur Oma, bis klar ist, dass dies geht. Und das tut es inzwischen, zum Glück.
Was ist richtig, was falsch? Vielleicht wissen wir es irgendwann. Jetzt haben wir bloss Meinungen, und von denen mehr als genug. Und so wird es wohl noch einige Wochen weitergehen. Posts voller Verschwörungstheorien, mahnender Worte, lustiger Witzchen und ernsthafter Fragen. So, wie es immer ist. Zu Coronazeiten einfach etwas mehr als sonst. Keine Ahnung.
4. Mai 2020
"Beitrag zur Entkrampfung"
Ach, wie erfrischend und frei heraus! Hoffentlich trägt diese Meinungsäusserung etwas zur Entkrampfung bei.
Erich Geissmann, Aesch
"Die 'Erfahrung' fehlt"
Sehr interessanter Artikel. Leider fehlt darin der Begriff "Erfahrung".
Hanspeter Berger, Basel