Die Schuldfrage und die Kriegs-Profiteure
Die Schuldfrage war in meiner Jugend zentral. Er oder ich, das war der Punkt. Ich war die Ältere und somit a priori verdächtig. Da half nur ein Argument: er, mein kleiner Bruder, hat angefangen.
In Europa herrscht Krieg. Heerscharen von Analysten, Spezialisten, Historikerinnen und Prognosen Stellerinnen sezieren die Kriegsschauplätze, erklären, werten. Der ist schuld, jener Verursacher, aber da war doch damals dieses Vorkommnis. Wer hat angefangen, die zentrale Frage, die Frage aller Fragen. Denn schuldig ist, wer anfing. Alles andere ist bloss Reaktion, Verteidigung.
Sie halten Vorträge, bilden Fronten, pro und contra. Und verdienen Geld mit ihrer Analyse des Kriegs. Vortrag mit Apéro, was war der Anfang allen Übels, die Ursache dieses Krieges, alles verdient mit diesen, an diesen Kriegen, an diesem Krieg, gerade jetzt.
Ist dies wirklich und jetzt die zentrale Frage? Wer hat angefangen? Die Schuldfrage wird irgendwann gestellt werden müssen, ja, aber durch das Kriegstribunal, wenn es um Wiedergutmachung geht. Dort, wo nichts wieder gut gemacht werden kann. Wir aber haben nicht Kriegstribunal zu spielen, sondern Mensch zu sein.
"Die Verursacher des Kriegs
kriegen keine Bomben auf ihr Haus."
Weshalb haben denn diese inkompetenten Selbstdarstellenden, die den offensichtlichen Kriegsopfern wider besseres Wissen ein Verschulden am Elend geben, überhaupt ein Publikum? Was geht in Menschen vor, die behaupten, die Angegriffenen hätten mit der Aggression angefangen, und das sei nun halt die Konsequenz? Dass sie getötet, vernichtet werden? Dass ganze Weltkulturerben in Schutt und Asche gebombt werden? Wer gibt diesen Demagogen ein Forum, wer ist dieses Publikum?
Es geht diesen Kreisen darum, nicht helfen zu müssen. Sie gönnen den Flüchtenden den Sonderstatus nicht. Speien Gift und Galle: Die haben ein besseres Auto als ich, die haben teure, künstliche Nägel, die färben sich die Haare, die laufen modisch herum. Kann doch nicht sein, dass es denen schlecht geht. Es besteht eine latente Aggression gegenüber den Flüchtenden.
Also muss eine Selberschuld her, und da bleibt nur das Argument aller Argumente: "Die haben angefangen." Die Narzissten am Rednerpult bedienen diese Zielgruppe selbstüberschätzend und grossmäulig, und kassieren. Schweizerische Neidgenossenschaft.
Das ist beschämend. Es ist vollkommen egal, welches die Ursachen eines Krieges sind – die Bevölkerung hat sie nie verursacht. Die Verursacher kriegen keine Bomben auf ihr Haus, sitzen satt am Schachbrett der Manöverbewegungen und feuern hin und her. Sie gamen, in echt. Und die Toten, Leidenden, Kranken, Kaputten, die sind auch echt.
Diese Leute, die da zu uns kommen, haben ihren Stolz. Sie versuchen, irgendwie zu überleben, und manchmal sind es Äusserlichkeiten, die Schutz bieten, eine gewisse Form, die man wahrt, um nicht ganz nackt dazustehen. Gel-Nägel.
Es wäre wunderbar, die Probleme dieser Welt könnten mit der Klärung der Schuldfrage abgehakt werden. Wären da bloss nicht die Toten, Traumatisierten, Flüchtenden.
27. Februar 2023
"Aus dem Herzen gesprochen"
Liebe Frau Strahm, Sie sprechen mir aus dem Herzen. ich kann Ihre Ansichten voll und ganz unterstützen und bin dankbar, dass Sie diese so klar dargestellt haben.
Alba Mirolo, Allschwil