Zweite Chancen können lebensgefährlich sein
Eine Chance. Der Chef gibt mir nochmals eine Chance, morgens pünktlich zu sein, obwohl ich schon fünfmal verschlafen habe. Wir geben dem schlechten Schüler nochmals eine Chance, runden die Noten auf, vielleicht macht er den Knopf ja doch noch auf. Und dem Mörder geben wir nochmals eine Chance. Nicht zu morden. Zu beweisen, dass die Therapie gefruchtet hat, die Einschätzung des Gutachters, der Richterin richtig war. Er nicht mehr quälen und töten wird.
Wer "nochmals eine Chance" erhält, hat bereits einen Minuspunkt in seiner Verhaltensbilanz. Ich habe schon fünfmal verschlafen, die Noten des Schülers sind miserabel. Eigentlich müssten wir, die wir da versagt haben, die Konsequenzen spüren, die Stelle verlieren, von der Schule fliegen. Erhalten aber nochmals eine Chance, vielleicht haben wir es ja nun begriffen. Und wenn nicht, können die Konsequenzen immer noch ergriffen werden, ohne dass jemand zu Schaden kommt. Anders im Falle des Mörders: Wenn er es nicht begriffen hat, dann wird ein völlig unschuldiger Mensch gequält, getötet, leidet jemand unsäglich und stirbt. Und die Familie des Opfers ist lebenslänglich traumatisiert.
Wer "nochmals eine Chance" erhält, hat für seinen Verhaltensfehler bereits den Drohfinger gezeigt erhalten, ist je nach Schweregrad der Verfehlung auch bestraft worden. Der Chef hat die Gehaltserhöhung verweigert, der Schüler wurde nur auf Probe befördert, und der Mörder hat gesessen und Therapien absolviert. Nun sollen wir beweisen, dass das alles genutzt hat, wir geläutert sind und fortan den Weg der Tugend beschreiten werden.
Das ist im Grundsatz nicht falsch. Es hat jeder eine zweite Chance verdient, heisst es ja so schön. Nur muss er auch die Möglichkeit haben, die Chance zu ergreifen. Es fällt beispielsweise niemandem ein, einem Baby, das vom Wickeltisch fiel, während dem der Vater gerade die Windel in den Mülleimer warf, eine zweite Chance zu geben. Es also nochmals alleine liegen zu lassen, damit es beweisen kann, dass es beim Windelwechseln ruhig da zu liegen vermag.
"Ein Täter, der seinen Aggressionen
einmal nicht gewachsen war,
gehört nicht mehr nach draussen."
Hat ein Triebtäter überhaupt die Möglichkeit, eine Chance zu ergreifen? Oder folgt er wie das Baby bloss Instinkten? Und wenn er es könnte – wird er es? Kann es Gutachter geben, die dies abschliessend beurteilen können? Aggressionstherapien, Hormontherapien, alle diese Therapien – ob sie dann in der realen Welt wirklich wirken, das wissen wir erst, wenn der Täter draussen ist und bis zu seinem Tod nicht rückfällig geworden sein wird.
Psychiatrische Gutachter sind Therapeuten. Die Therapie ist ihr Lebenswerk; ihr Ziel und Ehrgeiz ist es, den Täter wieder gesellschaftsfähig zu machen. Dass ihnen dies gelungen ist, können sie nur beweisen, wenn der Täter wieder draussen ist. Bei Marie aus der Romandie und andern gelang das nicht. Dazu sagt der Psychiater und renommierte Gutachter Frank Urbaniok in einem Interview, dass "über die vielen Hundert Fälle, die richtig eingeschätzt werden und wo nichts passiert" in der Öffentlichkeit nicht berichtet werde. Auch nicht über all die Menschen, die gar nie jemanden umlegen, und all die Menschen, die nicht umgebracht werden, denn das ist völlig irrelevant. Das verkennt der Fachmann, er hängt in seiner Tunneloptik, will die Richtigkeit seines Massstabes beweisen, hat den Bezug verloren.
Wir Bodenpersonal wissen, dass jeder irren kann. Auch Psychiater sind keine Hellseher. Es darf im Falle von Tötungsdelikten kein Restrisiko geben, denn das ist unerträglich. Verspielt ein derartiger Täter seine Chance, werden unschuldige Frauen, Kinder oder Männer gequält, zerstückelt, getötet. Sein Bedürfnis nach Freiheit steht in keinem Verhältnis zur unendlichen Qual und Tod seiner Opfer. Kriegt er keine Chance mehr, leidet er sehr viel weniger, als seine Opfer, wenn er sie nicht wahrnimmt.
Ein Täter, der seiner Aggression und seinen Trieben einmal nicht gewachsen war, der gehört nicht mehr nach draussen, wenn auch nur die kleinste Chance besteht, dass er rückfällig wird. Wer das beurteilen soll, weiss ich nicht. Gutachter jedenfalls, die nur ihre Theorien beweisen wollen, dürfen diese Chance klar nicht erhalten.
27. Mai 2013
"Gedanken nicht zu Ende geführt"
Die Kolumnistin führt ihren Gedanke nicht zu Ende. Wer A sagt müsste auch B sagen. Wenn A lautet: "... der gehört nicht mehr nach draussen, wenn auch nur die kleinste Chance besteht, dass er rückfällig wird." Und diese Chance besteht zweifellos immer. Dann hiesse B: "Alle Gewalt- und Sexualstraftäter sind lebenslänglich zu verwahren." In diesem Fall braucht es niemanden mehr, der die Frage einer möglichen Rückfälligkeit beurteilt. Solange man jedoch die geschilderte Lösung, unzählige Menschen lebenslänglich einzusperren, weil einige wenige davon wieder schwere Straftaten begehen könnten, als zu radikal und somit ethisch nicht vertretbar ablehnt, braucht es jemanden, der die Rückfallgefahr beurteilt. Am besten professionelle, interdisziplinäre Gremien und nicht nur Psychiater. Denn darin stimme ich der Kolumnistin zu, Hellseher gibt es auch unter den Psychiatern nicht, aber das Restrisiko bei der Entlassung von Straftätern gibt es und es ist besser, zu lernen damit umzugehen, als es zu verdrängen.
Dominik Lehner, Präsident der Konkordatlichen Fachkommission zur Beurteilung der Gemeingefährlichkeit von Straftätern der Nordwest- und Innerschweiz, Basel
"Wo bleibt die zweite Chance des Opfers?"
Das mit der zweiten Chance ist ja schön und gut. Auf den ersten Blick auch human. Aber – das Opfer, das tot ist oder für das ganze Leben geschädigt, wo ist dessen zweite Chance?
Hans-Otto Glaser, Lörrach
"Täter zu Opfern hochstilisiert"
Es ist unsere Justiz, die versagt. In den letzten Jahrzehnten wurden die Täter zu Opfern hochstilisiert und die Opfer praktisch zu Tätern. Täter erhalten jede Hilfe vom Staat, wie Advokaten und Therapeuten. Eine Reihe von Organisation setzt sich für sie ein. Die Opfer können sehen wo sie bleiben. Der Schaden wird ihnen nicht ersetzt und Hilfe erhalten sie höchstens von Freunden und Nachbarn. Ich selbst habe am 23.10.2002 einen Anzug im Grossen Rat für die Besserstellung von Opfern von Straftaten eingereicht (www.grosserrat.bs.ch Nr. 02.7348) der natürlich abgeschmettert wurde. Das sagt viel aus über unsere Grossratsmitglieder und Andrea Strahm muss sich nicht über die ausbleibenden Reaktion wundern, denn sie greift ein absolutes politisches Tabuthema auf.
Alexandra Nogawa, Basel