Die Dialektseuche – tschegsch, wasi mein?
"hey ma, i kum hüt nit heim zum zmidaag" – so oder ähnlich könnte eine SMS von einer meiner Töchter lauten, zu Deutsch: "Hallo Mami, ich komme heute nicht nach Hause zum Mittagessen." Wenn Sie nicht gerade aus Basel stammen, müssen den ersten Satz vielleicht zweimal lesen, denn etwa auf Berndeutsch würde man "hey muetti, i chumme hüt nid hei zom Zmittag" tippen. Den schriftdeutschen Satz verstehen Sie als Deutschschweizer oder Deutschweizerin hingegen problemlos.
Tatsache ist: Man schreibt seit einiger Zeit schweizweit, wie man spricht. Gut, Baseldeutsch haben wir Basler schon immer geschrieben, nämlich an der Fasnacht, nach strengen Regeln allerdings. Was sich heute tut, ist etwas ganz anderes: Es wird eine phonetische Schreibweise des Dialektes benutzt. Und wir tun es langsam aber sicher alle.
Anfangs habe ich mich dagegen gesträubt, denn ich schreibe ja dauernd irgendwas auf Schriftdeutsch und fand diese phonetischen Botschaften mühsam. Aber eine SMS mit dem Text "Ich habe Dich am Barfüsserplatz gesehen" etwa braucht sehr viel mehr Zeichen, als "Ha di am Barfi xe". Und das zählt, wenn ich, über den Brillenrand hinweg, mit schiefem Nacken und rutschender Handtasche, einhändig etwas ins Handy tippen will und nur schon dreimal auf Ziffer 4 drücken muss, um den Buchstaben "i" zu erhalten. Und dies mit meinen langen Fingernägeln, beim Einsteigen ins Tram. Deshalb: auch ich. Habe ich aber eine normale Tastatur zur Verfügung, ist mir Schriftdeutsch lieber. Was nicht auf alle Leute zutrifft: Ob auf "Facebook" oder an die Pinwand im Gratisanzeiger, Jung und vermehrt auch Alt schreibt, wie ihm der Schnabel gewachsen ist.
Verwunderlich ist das nicht, denn so kann man keine Fehler machen und man blamiert sich nie. Angesichts der dauernden Anpassungen der deutschen Grammatik besteht eine grosse Verunsicherung. Meine Unterscheidung hier zwischen "Schriftdeutsch" und "Hochdeutsch" ist ja auch längst überholt, das heisst, glaube ich, inzwischen "Standarddeutsch". Oder auch schon wieder nicht mehr. Adjektive und Adverben wurden abgeschafft, dafür gibt es heute eine einheitliche Bezeichnung, fragen Sie mich bloss nicht, welche. Jedenfalls muss der Französischlehrer einer Klasse mit der ganzen Grammatik von vorne anfangen, weil man auf Französisch (und Italienisch und Spanisch) das Adverb bildet, indem man ans Adjektiv "-ment" anhängt, oder "-mente" oder "-miente", und dazu müssen die Schüler erst einmal wissen, was Adverb und was Adjektiv ist. Was sie nicht tun.
Gleichzeitig setzen sich gewisse Kreise dafür ein, dass nicht nur in der Schule, sondern bereits im Kindergarten Hochdeutsch gesprochen wird. Dies, damit die fremdsprachigen Kinder die Sprache können, die sie in der Primarschule dann schreiben lernen sollten. Das führt dazu, dass fremdsprachige und deutschsprachige Kinder nicht mehr Dialekt lernen und mit den Deutschschweizer Kindern Hochdeutsch sprechen. Auch jugendliche Zugewanderte bleiben heute beim Hochdeutschen, denn wo sollten sie auch Dialekt sprechen lernen?
Und so kommt es, dass im Alltag Deutschschweizer Jugendliche eine andere Sprache sprechen und privat auch schreiben, als alle andern. Interessanterweise schreiben sich die Jugendlichen über alle Dialektschranken hinweg in der ganzen deutschen Schweiz ausschliesslich phonetisch. Allen andern hingegen schreiben sie Schriftdeutsch.
Mir gibt das zu denken. Früher war das anders. Unsere Secondos konnten nach zwei Jahren Kindergarten dank "alli mini Äntli", "es kunnt e Bibabutzelmaa" und "Schnäggli schnoogge" gleich gut Baseldeutsch wie alle andern, und gemeinsam lernte man in der ersten Klasse nebenher Hochdeutsch und damit schreiben. Heute haben wir zweierlei Sprachkreise: Einerseits Hochdeutsch sprechende und schreibende Nichtdeutschschweizer, und anderseits Deutschschweizer, die den Dialekt im Privaten auch zur Schriftsprache erhoben haben.
Das ist schlecht, denn so findet Integration nicht statt. Wir können den Dialekt und dessen schriftlichen Gebrauch nicht verbieten. Deshalb müssen wir dafür sorgen, dass Fremdsprachenkinder Dialekt lernen. Hochdeutsch ist nun einmal nicht die Sprache der deutschen Schweiz, war es nie, und nun ist auch noch eine neue Schriftkultur entstanden. Bringen wir den zugewanderten Kindern also möglichst früh unseren Dialekt bei – und ihren Eltern, wie wichtig das ist. Gäll, tschegsch, wasi mein.
20. September 2010
"Bravo!"
Bravo, bravo, bravo! Aber leider, leider ist diese Entwicklung wohl kaum aufzuhalten. Aber dran bleiben oder: Luege, loose, regglamiere!
Jan Krieger, Basel
"Regionale Sprachen sind identitätsstiftend"
Liebe Andrea Strahm, Sie sind ein Schatz, dass sie das Thema endlich aufnehmen. Bis jetzt fanden die Medien unisono, der Dialekt sei ein Integrations- hindernis. Wer am Elsasstag das Symposium zum Dialekt im Basler Rathaus besucht hat, konnte hören, dass die Elsässer ihren Dialekt mit grossen Mitteln fördern. Sie haben erkannt, dass die Umstellung auf flächendeckendes Französisch vor 60 Jahren (zu Gunsten besserer Integration der Elsässer in Frankreich und zur Verbesserung ihrer Berufschancen) nicht zielführend war. Die EU unterstützt seit längerer Zeit regionale Sprachen in Europa, weil diese identitätsstiftend sind und nach neueren Forschungen die Intelligenz fördern, denn kleine Unterschiede regen das Denken an. (Dies betrifft auch die Schweizer Dialekte, die wir alle verstehen, wenn wir wollen.)
Gerade die verschiedenen Dialekte bringen Leben, Farbe und Fantasie in den Sprachenbereich, wie man an der Handykultur der Kinder sieht. Es gibt gar keinen Grund, ihnen diese Freude zu vermiesen.
In der Schweiz ist man nun daran, diesen vor 60 Jahren gemachten Fehler zu wiederholen, obwohl gerade der Schweizer Weg mit Dialekt als Integrationsmittel durchaus erfolgreich war.In Deutschland sind punkto Sprachen die Länder Bayern, Baden-Württemberg und Sachsen in Pisa an der Spitze. (Immer noch schlechter als die Schweiz.) Hamburg, wo überall flächendeckend das reinste Hochdeutsch gesprochen wird, ist Schlusslicht.
Seit über acht Jahren werden im Basler Schulwesen Versuche mit Hochdeutsch gemacht. Es wird immer wieder behauptet, es gäbe gute Resultate. Diese sind aber nie überprüft worden, und es gibt keine Studie, die solche Erfolge beweisen würden. Aber es ist schwer zu Fehlern zu stehen, die so viel Geld gekostet haben.
Liselotte Reber, Riehen