Wir sind grossartig im Wegschauen
Auf Schritt und Tritt verfolgen sie uns, omnipräsent, mit jammervollem Gesichtsausdruck, die Stirne auf dem Boden, mit fehlenden Gliedmassen, an Krücken, krumm gewachsen in schmutzige Lumpen gehüllt. Ein Bild des Jammers, und sie liegen, sitzen, stehen an jeder Ecke, einen Pappbecher hingestellt oder hinhaltend, bettelnd, unterwürfig auch, alles da, aggressiv-vorwurfsvoll, Hundeblick, Leidensmine, Hass. Sie schlafen in den Pärken, sie richten sich ein, in eisiger Kälte.
Wir reagieren. Die einen sammeln Schlafsäcke und Kleider, bringen Kaffee. Die andern empören sich, werden aggressiv, die sollen wieder dahin, wo sie herkamen, weg mit denen. Kalt lassen sie keinen. Wir wollen dieses Elend nicht sehen, weder die, die helfen, noch die, die Abscheu verspüren, keiner will das sehen müssen. Ob sinnloser Aktivismus oder unverhohlene Ablehnung: Beides hat mit uns zu tun, nicht mit den Bettlern. Sie halten uns einen Spiegel vor, und was wir darin sehen, ist hässlich.
Eine schwere Krankheit, ein tragischer Unfall, ein Angehöriger ist gestorben, was auch immer. Und schon wechseln die Nachbarn das Trottoir, übersehen dich irgendwie, peinlich berührt, du könntest ja anfangen zu heulen, was soll man dir denn sagen, übers Wetter reden geht ja nicht, unter diesen Umständen. Also rasch wegschauen. Wir sind grossartig darin, wegzuschauen. Weltmeister.
"Die Bettler sind ein Lehrstück,
sie führen uns vor, ohne es zu wollen."
Auch aufgedrängte Hilfe ist nicht immer das, was nötig wäre, denn wenn du gerade diese Hilfe jetzt nicht willst, nicht annimmst, genug damit zu tun hast, dein Leben wieder aufzugleisen, dann verletzt sie das. Und auch sie ziehen sich zurück.
Es darf kein Leiden geben auf dieser Welt, und wenn, dann wollen wir es nicht sehen. Wir leben in einem der reichsten Länder der Welt, wir haben eines der weltweit besten Gesundheitswesen, es geht uns wirklich gut, wenn uns nicht andere Probleme plagen. Aber das Elend dieser Welt können wir dennoch nicht verhindern, mit allen Mitteln nicht, vor allem nicht in Staaten mit innenpolitischen Problemen.
Länder, in denen die Leute in massiver Armut leben, können unsere Werte nicht nachvollziehen. Wer täglich stundenlang damit beschäftigt ist, Nahrung für die Familie aufzutreiben, damit diese nicht verhungert, wer Kinder verkaufen muss, wer zusehen muss, wie ihm die Liebsten wegsterben, den interessiert die Rettung der Welt nicht.
Den interessiert die Klimadebatte nicht, der wirft seinen Müll ins Meer, und der durchwühlt Müllhalden nach Essbarem und ist froh, dass manche Leute Brauchbares wegwerfen und nicht recyclen. Es ist ihm völlig egal, wenn Wale im Pazifik draussen an Plastik versticken oder sich Delfine in Fischernetzen verstricken. Und der wird wütend, wenn die Hunde von den Strassen seines Heimatlandes geholt, medizinisch versorgt und von aufopfernden Menschen zum Beispiel in die Schweiz gebracht werden. Wieder ein Hund gerettet. Und ihm starb das Jüngste weg.
Wir sollten hinschauen. Es wird nicht gelingen, die Klimakatastrophe zu verhindern, wenn wir nicht gleichzeitig die Armut bekämpfen. Die Solardächer in Basel, das Verbot von fossilen Heizungen, all die Wärmepumpen und Fernheizungen und ein Amt für Energie und Umwelt in einem energetischen Luxusbau mitten in der Stadt, das ist nichts als Selbstbefriedigung. Das Geld könnte man gescheiter ausgeben, nachhaltiger, würde man über den grünen Tellerrand schauen.
Die Bettler sind ein Lehrstück, sie führen uns vor, ohne es zu wollen. Wir haben das Bettelverbot abgeschafft und falsche Anreize geschaffen. Das müssen wir also wieder einführen, denn wir helfen ihnen nicht, wenn wir sie hier betteln lassen. Aber selbstverständlich versorgen wir sie, jetzt wo sie da sind.
Auch das Christkind schlief, dem Vernehmen nach, in einem kalten Stall und auf Lumpen gebettet.
14. Dezember 2020
"Dieses Verhalten geht zu weit"
"Auch das Christkind schlief, dem Vernehmen nach, in einem kalten Stall und auf Lumpen gebettet." – Ich nehme jetzt nicht an, dass dieser Vergleich ernst gemeint war. Wenn man hört, dass Menschen beschimpft werden, wenn sie diesen Bettlern ihrer Meinung nach zu wenig geben, oder wenn sie mit Lebensmittel versorgt werden, diese einfach liegen lassen.
Dieses Verhalten geht zu weit und es zeigt, dass sie wirklich nur organisiert Geld sammeln "müssen", das sie am Abend wieder dem Chef abliefern.
Peter Isler, Basel
"Die Besen sind ungleich verteilt"
Ihre Kolumne ist gut, sehr gut geschrieben, Frau Strahm. Das Dilemma, in dem wir alle stecken, ist gross, sehr gross! Jeder soll vor seiner eigenen Türe wischen, könnte man in diesem Zusammenhang hören. Das haben uns bereits die Gegner der Konzernverantwortungs-Initiative vorgegaukelt! Die Kriegsgeschäfts-Initiativgegner gehören ebenfalls in diesen Kreis.
Die Besen sind aber ungleich verteilt. Warum bloss? Wir wohlhabende Gesellschaften ziehen diesen Ländern skrupellos ihre Ressourcen billig ab. Total legal. "Aber es geht den Menschen dort, wo die Konzerne ihre Geschäfte machen, viel besser als dort, wo diese nicht aktiv sind", ist ein Einwurf, der das Dilemma scheinbar vergrössert. Sie leben dort vergleichsweise besser. Sie haben Schulen, bessere Infrastruktur, mehr Geld.
Das stimmt wohl manchenorts. Doch ist das ein Freipass für ihre Gewinnmaximierung? Wenn jemand im Leben nach der Maxime lebt, den Mitmenschen möglichst auszunutzen, dabei noch die Gewinne abführt und auch noch allzu vieles davon in seinen privaten Wohlstand abzweigt, so gibt das keine Weihnachtsgeschichte!
Viktor Krummenacher, Bottmingen