Die Privilegien-Verlockung des Impfpasses
Ein Stich ins Wespennest ist sie, die Frage, ob gegen Corona Geimpfte mehr dürfen sollen als Nichtgeimpfte. Einerseits sind noch nicht alle geimpft, die wollen würden, und für die wäre eine Ungleichbehandlung so was von ungerecht. Andererseits sind da die Impfgegner, die sich niemals impfen lassen, ausser sie machen einen Rucksack-Tripp nach Indien. Dann jagen sie sich restlos alles in die Muskeln und Venen, von Gelbfieber bis Reisefieber, aber lassen wir das. Denen jedenfalls würde jeder Impfwillige eine Einschränkung noch so gönnen, lassen die Geimpften für sich Versuchskaninchen spielen, also sollen sie auch nicht in die Beiz.
Es könnte sachlicher argumentiert werden. Das tat Andrea Büchler, die Präsidentin der Nationalen Ethikkommission, in einem Interview mit Mario Stäuble (Tamedia-Zeitungen vom 1. März 2021). Immer davon ausgehend, dass Corona-Geimpfte weder krank werden noch das Virus weitergeben können, hat sie zunächst den Staat von den Privaten abgegrenzt, und da leuchtet ein: Zünfte dürfen nur Männer zulassen, das Tram hingegen muss auch Frauen transportieren. Wenn mir als privater Beizerin die Risiken also zu hoch sind, dann darf ich nur Geimpfte ins Restaurant lassen. Mein Entscheid.
Büchler nennt auch den rechtsstaatlichen Grundsatz, dass die Einschränkung der individuellen Freiheit nur so weit gehen darf, wie wirklich notwendig. So gesehen müssten Geimpfte von der Pflicht des Maskentragens befreit werden. Da diese Abgrenzung aber praktisch nicht machbar ist, müssen auch Geimpfte nach wie vor in den sauren Masken-Apfel beissen. So wie Rettungsschwimmer nicht von der Mittleren Brücke springen dürfen, auch wenn sie dies beherrschen würden. Ausser natürlich, sie müssten jemanden vor dem Ertrinken retten. Juristerei war noch nie einfach, schon gar nicht öffentliches Recht, gäll Beat.
"Frau Strahm, Sie waren gestern Abend
schon wieder zuhause."
Drum noch ein praktischer Aspekt: Was interessieren eigentlich die Befindlichkeiten von Gespritzten und Ungespritzten. Wirklich leiden tun, nebst den Kranken, doch die schon so lange geschlossenen Institutionen wie die Kunst- und Eventszene, Beizen, Fitness-Studios, Chöre, Reisebüros. Chorleiter, Musiker, Restaurateure, Musiklehrer und andere stehen vor der Existenzvernichtung, wissen nicht wie weiter. Ihnen wird geholfen, aber zu langsam, der Formularkrieg ist uferlos, und dank denen, die übel tricksen, wohl unumgänglich.
Diese Gruppe ist seit vielen Monaten schon zu Untätigkeit verurteilt. Dürfte wenigstens sie für Geimpfte öffnen, hätte sie immerhin diese, stetig wachsende Klientel. Für manche würde das wirtschaftlich wohl noch keinen Sinn machen. Aber Singen im Chor, Tanzunterricht, Konzerte in kleinem Rahmen, all dies wäre möglich, wenn Geimpfte zugelassen würden. Zum Nutzen dieser Anbieter, damit sie wieder eine kleine, langsam wachsende Perspektive haben. Zum Nutzen auch aller andern, wenn diese Gruppe dank der geimpften Kundschaft auch dann noch da ist und das Leben aller bereichert, wenn alles endlich ausgestanden sein wird.
Aber wenn wir die Sache schon praktisch betrachten, dann konsequent. Dürften nämlich die Gespritzten nun ins Fitness-Studio und in die Beiz, dann stünden sie unter immensem Druck. Müssten die Welt retten, im Alleingang. Dürften nicht mehr gemütlich zuhause chillen, keine Pizza mehr bestellen. Müssten raus, ab in die Beiz, ins Fitness-Center, in den Chor. Konsumieren, konsumieren, konsumieren, atemlos.
Ich als zweifach Geimpfte bin erschöpft, wenn ich nur daran denke. Frau Strahm, Sie waren gestern Abend schon wieder zuhause. Sie hatten den Coop-Lieferdienst. Sie shoppten online, ich sah den Päckli-Böschtler. Frau Strahm, wir freuen uns, Sie wieder bei uns im Restaurant begrüssen zu dürfen, Sie sind doch geimpft, Sie waren gestern im Fitness-Studio, unser Koch sah Sie dort. Himmel hilf.
Es gibt also keine Ideallösung. Wir müssen da einfach durch, Geimpfte wie noch Ungeimpfte. Miteinander geht es besser als gegeneinander. Irgendwann ist es ausgestanden, und Corona ist Schnee von gestern. Es geht nicht mehr so lange, wie auch schon, dies immerhin.
8. März 2021
"Ich hüte mich, Vorrechte abzuleiten"
Seit Januar zweimal mit Pfizer-Stoff versorgt, hüte ich mich jedoch, als bereits Geimpfter daraus Vorrechte abzuleiten. Ich trage weiterhin meine Maske, meide grössere Ansammlungen. Auch meinen geliebten Sport, das Fussballspiel, über ich seit Monaten nicht aus. Wenn es die allgemeinen Regeln wieder erlauben, bin ich der Erste, welcher wieder regelmässig auf dem Trainingsplatz erscheint, der die Musikprobe im "Sichi" wieder besucht.
Ich bin dankbar, dass ich die Gunst der zweifachen Impfung erfahren durfte. Jetzt schaue ich weiter nach vorne und bin eigentlich ganz zuversichtlich, im kommenden Sommer gewisse Freiheiten wieder geniessen zu dürfen.
Steffi Luethi-Brüderlin, Basel
"Einleuchtende Begründung erforderlich"
"Privilegien" für Geimpfte? Die Frage hat es in sich, zur "Unfrage" des Jahres zu werden. Es kann doch in einem freiheitlichen Staat nicht darum gehen, Lastengleichheit als Regel und Freiheit als Privileg zu definieren. Wenn der Staat meine Freiheit begrenzen will (wofür gute Gründe sprechen können), so ist er begründungspflichtig.
Wenn für Geimpfte weiterhin einschränkende Massnahmen gelten sollen, so muss dies einleuchtend begründet werden, nicht umgekehrt. Es kann zweifellos solche Gründe geben, etwa die (vorläufige) Unsicherheit, ob Geimpfte ansteckend sein können, oder die Praktikabilität der Differenzierung in der Praxis, vor allem in der Öffentlichkeit. Doch wie soll – beispielsweise – das Verbot einer privaten Versammlung von mehr als fünf geimpften Personen legitimiert werden?
René Rhinow, Liestal