Die Illusion der Work-Life-Balance
Irgendwie stehe ich mir mit all diesen gegenwärtigen Arbeitszeit- und Lebenszeit-Forderungen auf der Leitung. Teil-Zeit, wovon? Arbeite ich täglich acht Stunden, dann ist dies Teilzeit, wenn ein sogenanntes Hundertprozent-Pensum 8,5 Stunden wäre, und Überzeit, wären hundert Prozente bloss sieben Stunden. Acht Stunden sind einfach acht Stunden, ein Drittel eines Tages. Und sieben Stunden sind sieben Stunden, bei einer 35 Stunden-Arbeitswoche arbeite ich damit Vollzeit, bei einer 41 Stunden-Woche Teilzeit.
Fühlt sich denn irgendwer da draussen besser oder schlechter, wenn besagte sieben oder acht Stunden Vollzeit oder Teilzeit sind? Schrauben wir die Vollzeit hinunter und sieben Stunden werden von Teilzeit zu Vollzeit, dann hoffen wir natürlich, nun den Lohn zu erhalten, der davor für acht Stunden bezahlt wurde. Lohnerhöhungen könnten aber auch ohne Umwege diskutiert werden. Entscheidend ist die Anzahl Stunden, die wir mit unserer Arbeit verbringen, ob die nun Teilzeit oder Vollzeit heisst.
"Diese Abenteuer-Sehnsucht
erfüllt sich nie, oder höchstens punktuell."
Entscheidend wofür, eigentlich? Für die Work-Life-Balance, sagen sie. Mit anderen Worten: "Work" ist nicht gleich "Life". Und da stehe ich schon wieder auf der Leitung: Ist Arbeit nicht Leben, was ist Arbeit dann? Hinter dieser Begriffswahl steckt eine unglaublich negative Konnotation. "Last", "Frust", "Stress", "Fremdbestimmung", alles wird in den Begriff der "Arbeit" geschoben, Arbeit, die halt sein muss, weil Geld sein muss. Dies im Gegensatz zu "Fun", "Spass", "Entspannung", dem Leben, das dann stattfindet, wenn Rest-Zeit ist, die Zeit, die Voll- oder Teilzeit übriglassen.
Jeder wählt sich seine Ausbildung, seinen Beruf, alle haben fast alle Möglichkeiten, entscheiden über den Aufwand, den sie für die Ausbildung erbringen möchten und können. Tatsache ist, dass Befriedigung, Spass, Zufriedenheit sowohl im Beruf als auch im Privatleben stattfinden. Last, Frust, Stress und Fremdbestimmung ebenso.
Die Erwartungen an die Freizeit sind jedoch riesig, werden idealisiert, da findet das Leben statt, das ist das Leben, nur das. Es muss scheinen, glänzen, unterhalten, rocken, Spass machen, ein Feiern und Lachen und Nichtstun voller Abenteuer.
Genau darin aber liegt die wahre Tragödie. Diese Sehnsucht erfüllt sich nie, oder höchstens punktuell. Wir suchen die Höhepunkte ohne Ende, jagen ihnen nach, ersehnen sie voller Hunger, und erreichen sie doch nie in dem Ausmass, wie wir sie gerne hätten.
Womit wir bei der Balance wären: Die starke negative Bedeutung, die wir der Arbeit geben, sie abgrenzen von "Life", mithin als "Nicht-Leben" bezeichnen, schreit nach dieser Anhäufung an Glückshormonen in der anderen Schale, in der "Lebensschale". Nur dann entsteht ein Gleichgewicht.
Bei einer Waage können in beide Schalen Gewichte gelegt, aber auch aus ihnen entfernt werden. Die "Life"-Schale ist am Anschlag. Die Waage kommt also nur ins Gleichgewicht, wenn wir der "Work"-Schale Gewicht nehmen. Auch während der Arbeit ist Leben, das meine ich.
Nicht auszuhaltende Arbeitssituationen gibt es, und die bringen das Leben zuweilen aus dem Lot. Nicht auszuhaltende private Situationen gibt es auch, Trauer, Enttäuschungen, und auch die bringen einen aus dem Gleichgewicht. Man sagt dem "Leben", "that’s life", beidem, unabhängig von Teilzeit oder Vollzeit.
27. März 2023
"Gut gebrüllt, Löwin!"
Bravo! Well roared lion, aber begreift das die Gruppe, die es begreifen sollte? Vom Mangel in den Überfluss, das war nicht zu lernen, wie aber ist es mit dem Lernen vom Überfluss zum Mangel? Und ich meine jetzt nicht das Materielle.
Einfach Bravo und "danggerscheen", het’s emool epper gsait. Dass es e gscheite Frau gsi isch, isch wie ne Frieligswind iiber e Matte vo Bliemli, wo bunt und gwundrig in d Sunne luege.
Hans Stelzer, Basel
"Arbeit ist kein Gegensatz, sondern zentraler Bestandteil"
Es kommt nicht so häufig vor, dass ich mit Andrea Strahm gleicher Meinung bin. Doch wenn ich ihr zustimmen kann, dann unterstreiche ich das gerne und gehe noch einen Schritt darüber hinaus. Sie kritisiert mit ihrer Kolumne "Die Illusion der Work-Life-Balance" eine aktuell weit verbreitete Haltung, aus der manche offensichtlich schon ableiten, Arbeit verstosse gegen die Menschenrechte.
Für mich ist etwas ganz klar. Wer immer diesen Begriff "Work-Life-Balance" erfunden hat: Viel kann er oder sie sich dabei nicht gedacht haben. Denn diese Redewendung an sich stellt Arbeit und Leben in einen vermeintlichen Gegensatz. Dabei war Arbeit schon immer, vermutlich schon bei den Steinzeitmenschen, ein wichtiges Element im Leben fast aller Menschen, um dieses Leben überhaupt bestehen zu können. Arbeit ist just nicht ein Gegensatz zum Leben sondern ein zentraler Bestandteil des menschlichen Lebens!
Rudolf Mohler, Oberwil
"Wie viel ertragen die Sozialsysteme langfristig?"
Grossartig – genau so ist es. Natürlich darf – ja muss – der individuelle Entscheid eines jeden einzelnen möglich sein. Zumal im Vertragsverhältnis zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer. Allerdings frage ich mich, wie die Sozialsysteme langfristig so viel frei gewählte Individualität ertragen.
Beispiel AHV: Ich habe 42 Jahre lang für 100 Prozent Arbeit eingezahlt; aber nach einem Autounfall mit 62 Jahren bezog ich ein Jahr später vorzeitig AHV-Rente. Dafür wurde mir natürlich die AHV gekürzt, weil ich eigentlich 44 Jahre lang für 100 Prozent Arbeit hätte einzahlen müssen. So hatte ich halt nur für 95,5 Prozent lebenslanger Arbeit die Prämie für den Arbeitslohn einbezahlt.
Hätte ich aber 44 Jahre lang für 70 Prozent Arbeitslohn einbezahlt, bekäme ich jetzt eine höhere AHV-Rente. Irgendwie geht das nicht auf.
Klar – das Beispiel mag hinken. Die AHV ist eine gute Sache, weil sie am Ende des Berufslebens die hohen und tiefen Einkommen nivelliert. Allerdings ging man bei der Schaffung der AHV kaum davon aus, dass dabei auch eine völlige freiwillige "Work-Life-Balance" nivelliert werden soll, auf der Grundlage, dass Arbeit – also Lebensunterhalt generieren - nicht zum "Live" passt.
Peter Waldner, Basel