Grand-mamans warme Schokolade als Lehrmittel
Pose ta tasse, Adil! Die mahnenden Worte meiner Grossmutter führen mich tatsächlich dazu, meine Tasse abzusetzen. Ich soll mir die Tasse einteilen, zu schnelles Trinken führe zu Bauchschmerzen. Die warme Schokolade ist einfach zu gut und mein Durst zu gross. Ich bin fünf Jahre alt.
Wenn die Headhunters und Personal-Verantwortlichen in diesem Land den Bewerberinnen und Bewerbern auf den Zahn fühlen, stellen wohl viele auch diese eine Frage: Was sind eigentlich ihre Schwächen? Offenbar antworten da viele mit der Ungeduld. Ist das gar die Schwäche der Nation?
Ein halbes Jahr später, es ist ein herrlicher Sommernachmittag im Wallis. Ich kann den Sommer hören. Die Grillen zirpen, ein ganz leichter Wind weht über die satten Wiesen, in der Ferne höre ich Kuhglocken. Schweizer Alpenkitsch an einem Bilderbuch-Tag. On va où, grand-maman? Ich bin etwas unsicher, weil ich die Gegend noch nicht kenne. Tu verras, Adil. Wir gehen. Nach einer Weile betreten wir den Wald, der schattig und angenehm kühl ist. Und ruhig. Meine Grossmutter grinst. So sieht sie mich selten. So still, keine Fragen. Sie weiss, wie sie mich zur Ruhe bringen kann.
"Es braucht Geduld, die Tasse auch einmal
kurz abzusetzen."
Wenn ich heute viel um die Ohren habe – Projekte, die erarbeitet werden wollen, Texte, die geschrieben werden sollen, Prüfungen, auf die gelernt werden muss – dann nehme ich mir manchmal ein Wochenende Zeit, fahre zu diesem Haus in den Walliser Bergen und mache einen Spaziergang im Wald. Schweizer Ärzte sollten lieber vermehrt Alpenkuren verschreiben, statt die Neo-Droge Ritalin. Anderes Thema.
Ich stehe am Küchentisch. Gerade eben habe ich mir eine Tasse Kakao gemacht, die genau gleiche Sorte Pulver wie fast zwei Jahrzehnte zuvor. Der gleiche Duft, die gleichen Erinnerungen. Ich habe Zeit. Meine Grossmutter hat mich gelehrt, langsam voranzugehen, zu geniessen.
Le chocolat chaud ist eine tolle Erinnerung an meine Kindheit. Heute habe ich eine andere Leidenschaft: Seit sieben Jahren bin ich politisch engagiert. Wie war ich ungeduldig, bis ich zum ersten Mal abstimmen durfte. Ich lerne jeden Tag dazu. Dass Politik Geduld braucht, aber auch Nachdruck. Dass man ohne viel Herzblut den rauhen Gegenwind nicht durchsteht, der einem eigentlich immer versucht zu sagen: Politik ist schlecht. Was du tust, ist schlecht. Deine Meinung ist falsch.
Politik braucht Überzeugung und Geduld. Einen grossen Teil der letzten sieben Jahre habe ich damit verbracht, mit Freundinnen und Freunden Projekte auszuhecken, Aktionen zu organisieren, mich einzusetzen für Ideen, die mir wichtig sind. Ich habe dabei gekämpft, manchmal gewonnen, manchmal auch Niederlagen einstecken müssen. Politik ist meine Leidenschaft. Aber sie braucht einen langen Atem. Es braucht Geduld, die Tasse auch einmal kurz abzusetzen, um dann weiterzumachen.
Meine Grossmutter sagt: Pose ta tasse. Sie macht eine Pause. S'il te plaît. Ich geniesse die Zeit.
12. Januar 2015
"Wie wahr!"
Bravo! Sehr schön und wie wahr.
Dagmar Vergeat, Basel