Theater Basel
Schauspielhaus
Premiere
"Die Unterrichtsstunde"
Autor: Eugène Ionesco
Regie: Werner Düggelin
Bühne: Raimund Bauer
Mit Marie Jung, Vincent Leittersdorf, Nikola Weisse
Wenn der Herr Professor mordet
Die neue Schülerin ist wirklich selber schuld. Dass sie nicht mehr zuhören will, das wird sie bereuen. Der Professor erklärt es ihr ja klar und deutlich:"Was die neo-spanischen Sprachen voneinander und wiederum von den Idiomen anderer Sprachgruppen unterscheidet, wie zum Beispiel der Gruppe der österreichischen und neo-österreichischen oder habsburgischen Sprachen, wie ebenfalls der Sprachgruppen des Esperanto, des Helvetischen, Monegassischen, Schweizerischen, des Andorrischen, Baskischen, Pelotischen und andererseits der Gruppen der diplomatischen und technischen Sprachen – was sie unterscheidet, sage ich, ist ihre frappierende Ähnlichkeit."
Alles klar? Herr Professor ist bei der Philologie angekommen, seinem Spezialgebiet. Enorme und geniale Monolog-Kaskaden wie eben beweisen es. Aber die undankbare Schülerin unterbricht ihn dauernd. Sie hat jetzt "Zahnweh". "Machen Sie sich doch Notizen", herrscht er die Ungehorsame an. Der Professor verliert die Geduld. Die Eskalation nimmt ihren Lauf.
"Die Unterrichtsstunde" von 1951 hat keine weitere Handlung als eben die Privatlektion der jungen Schülerin beim Herrn Professor. Sie endet tödlich. In dem "komischen Drama" (Ionesco) bemüht der gestandene aber hilflose Herr zunächst vergeblich die Wörter, die Bildungshierarchie, um der jungen Göre beizukommen. Am Ende langt er zum Messer.
Inspiriert hatten Ionesco zum Stückeschreiben das Geschwätz ("Das Surreale ist mit Händen zu greifen, es ist vorhanden – im Alltagsgeschwätz") und ein Sprachkurs. Der Professor paukt automatenhaft: "Bitte übersetzen Sie auf neospanisch: Die Rosen meiner Grossmutter sind ebenso gelb wie mein Grossvater der Chinese war." Die Premieren-Zuschauer in der Kleinen Bühne lachten, schüttelten den Kopf, hielten die Hände vors Gesicht. Ionescos Komik lotet tief in unseren Gründen.
Die Privatlektion ist ab Start ein pointenblitzendes Wort- und Gestenduett. Schon die Kennenlernfloskeln werfen den Herrn Professor aus der Bahn. Die Schülerin ist "ja noch so jung", entfährt es ihm. Sie stelle sich ihm "ganz zur Verfügung", sagt sie. Eine von vielen Irritationen. Schrecklich für ihn: Er unterliegt gegen sie in einem grotesken Multiplikationsduell. Die Schülerin hatte alle "möglichen Resultate auswändig gelernt". Mit unbefangenen Fragen zwingt sie ihn zum Bekenntnis, dass er noch nie in Paris war. Eine Wunde. Sofort lässt er sie wie zur Strafe Additionen ackert.
Und dann ist da noch Marie, sein Dienstmädchen, die unverhofft in die Lektion hereinplatzt. Offenbar mit den Zuständen des Professors bestens bekannt warnt sie ihn, sich nicht aufzuregen. Er soll auf die Mathematik-Lektion (die völlig scheitert) ja nicht die Philologie folgen lassen. Aber der Professor tut es natürlich und er hebt ab (siehe Anfang), die Schülerin quengelt, am Ende zieht er ein grosses Messer aus der Schublade und lässt das Wort "Messer" ("Sagen Sie Messer!") prononcieren. Dann sticht er zu. Röchelnd er: "Das hat mir gut getan". Marie bringt die Pointe: "Schon die Vierte heute". Und draussen an der Tür klingelt bereits die nächste Schülerin.
Aber gerade die offensichtlich sexuelle Komponente hat Regie-Senior Werner Düggelin knapp, ja trocken abgehandelt. Kein Orgasmuszuckung beim Erstechen, auch sonst keine "lüsternen Blicke", was Ionesco wollte. Ja, Düggelin inszeniert den Professor, die Schülerin, das Dienstmädchen (Weisse) als Figuren ohne Trieb, ohne Sex, ohne Psychologie.
Düggelin verlässt sich darauf, dass die Komik im Duett Professor-Schülerin auch ohne seelischen Hintergrund oder schauspielerische Stilisierung funktionieren soll. Der Professor (Leittersdorf) redet zwar seine Verrücktheiten, aber wir riechen die Schaltstelle nicht, die durchgebrannt ist. Der Ton ist normal verständig, mit dem die Schülerin (Jung) gegen den tyrannischen Lehrer aufmotzt. Keine Exaltiertheit am Ende. Dass sie ein Ehrgeiz-Opfer der Eltern ist, entnehmen wir dem Text, nicht dem Ton.
Die Irrläufe der Persönlichkeiten zeigt eine Drehbühne, auf der die Figuren gelegentlich im Kreise drehen. Anstelle erweiterter Dynamik ertönt schon bald cholerisches Gebrüll. Das böse Ende spürt man nicht im Grunde der Personen, man denkt es sich aus der Logik des Texts.
Das Publikum lacht. Die Pointen sitzen. Das Ensemble ist routiniert genug, sie kalkuliert zu setzen. Die Welt, die der Text (Übersetzung: Düggelin) schafft, ist stark genug. Aber einem Drama, der getrimmten Schülerin, des Professors auf autistischer Weltflucht, haben wir nicht beigewohnt. Eher einer Farce.
Es ist eine Aufführung der ins Leere laufenden Signale. Bezeichnend dafür ist auch, dass Düggelin am Anfang und Ende kurz Handorgel-Musette einspielt. Aber hier geht es nicht um eine Anheimelung des Stückes ins Paris des letzten Jahrhunderts, sondern um ein Zitat. Es korrespondiert mit dem Schwarzweiss-Foto als Bühnenhintergrund, das eine Pariser Stadtwohnung darstellen könnte. Zu dem Zitat-Inventar gehört auch das Dienstmädchen: Rotgeschminkte Wangen, brauner Seitenscheitel wie in den vierziger Jahren, fast zu grosser Knie-Jupe.
Als Prolog gabs "Die Sonate und die drei Herren" von Jean Tardieu, einem Zeitgenossen Ionescos. Das Publikum applaudierte heftig nach dem einstündigen Abend.
17. November 2011