Theater Basel, Schauspielhaus
Uraufführung
"Frühlings Erwachen"
Mit Urs Bihler, Georg Martin Bode, Benjamin Kempf, Claudia Jahn, Chantal Le Moign, Barbara Lotzmann, Jörg Schröder, Peter Schröder, Nikola Weisse
Autor: Frank Wedekind
Regie: Elias Perrig
Bühne, Kostüme: Beate Fasnacht
Dramaturgie: Ole Georg Graf
Jugend-Sex im Altenheim
Wo sind wir denn da hin geraten? "Frühlings Erwachen" steht draussen angeschrieben, eine "Kindertragödie" sei es. Aber wenn der dicke Plüschvorhang sich hebt, sind wir in ein Altenheim mit der sterilen und doch muffigen Pressholz-Innenarchitektur versetzt: Die Runde in der Bühnenmitte ab 70 bis halbtot übt sich laut singend in Gedächtnistraining. Die schwachen und steifen Körper bewegen sich, wie es halt noch geht, rhythmisch zum Gesang in Heimstühlen, in Rollstühlen, auf Sitzbällen. Die jugendlichen Heimleiter grinsen ihr Ferienanimatorsgrinsen, das unangenehm zwiespältig zwischen Fürsorge und Verachtung schwankt. Weit oben sind Zimmertüren wie Zellentüren angeordnet, und durch die Gänge stolziert steif wie ein Wachmann ein Arzt mit Brille und Stethoskop.
Sind also Wedekinds einstige Kinderhelden Wendla, Melchior und Moritz doch nicht tot, sondern alt und nun ins Seniorenasyl interniert worden? Wäre ja denkbar als Frage, was vom Drama ihrer Jugend übrigblieb. Denn Autor Frank Wedekind hatte in "Frühlingserwachen" die schweren Nöte irritierter Pubertierender im wahrscheinlich prüdesten aller Zeitalter, dem des Wilhelminischen Kaiserreichs um 1890 vorgeführt. Eine inspirationstötende, militaristisch-bürgerliche Gesellschaftsordnung herrschte damals.
Zwei Mitschüler Wedekinds hatten sich umgebracht; aus ihnen formte er die Figur des Selbstmörders Moritz Stiefel. Dieser konnte in der Schule nicht mit- und dem elterlichen Druck nicht standhalten. An seinem Grab ruft sein Vater: "Der Junge war nicht von mir." Wendla Bergmann stirbt schwanger an den Mitteln eines Kurpfuschers. Ihre Mutter hatte sie in der Weise aufgeklärt, dass sie nur dann schwanger werde, wenn sie wirklich liebe. Melchior Gabor wird wegen einer Zeichnung über den Geschlechtsakt in eine Korrektionsanstalt gesteckt. "Fast jede Szene entspricht einem wirklichen Vorgang", hielt Wedekind gegen allerlei Angriffe fest. Aber mit hysterisch-fiebrigen Szenen zeichnete er eine karikaturistische Fratze. Autor Egon Friedell charakterisierte ihn als Manieristen: "Sein Realismus packt oft sehr stark, aber nicht wie ein wirkliches Erlebnis, sondern wie ein wüster Traum."
Nun aber, das Altenheim in der Jetztzeit: Nein, Regisseur Elias Perrig und Dramaturg Ole Georg Graf haben das Stück nicht fortgeschrieben. Sie hatten sich viel mehr dazu entschieden, das Stück auf den Kopf zu stellen. Die Jungen sind jetzt hier halt Alte. So einfach. Moritz Stiefel und Melchior Gabor fragen einander also nicht: Hast Du schon männliche Regungen empfunden?, sondern: Empfindest Du sie noch?
Aber so einfach gehts denn doch nicht. Denn hier im Altenheim ist der Druck weg. Hier gibt es nämlich keinen moralversauerten Pastoren Kahlbauch und auch keine verknöcherten Professoren Fliegentod, Knüppeldick oder Affenschmalz, die den Zöglingen zusetzen. Hier gibt es auch keine schlagenden, verständnislosen Eltern. Die sind gestrichen. Gestrichen ist auch der Zensuren- und Prüfungsstress. Was bleibt, ist ein gefälliger, milder Altherrentalk, etwa über die Bedeutung von Gretchen im Faust-Drama. Moritz Stiefel sucht auch nicht verbotenerweise im Lehrerzimmer nach dem Versetzungsbescheid, sondern im Arztzimmer nach dem Diagnosebefund. Denn der einzige Druck, der jetzt noch herrscht, ist die Angst vor dem bevorstehenden Tod.
Nur: Ist dies derselbe Tod? Bei Wedekind vibrieren junge Wesen, die von den Pubertäts-Sensationen überrascht und damit alleingelassen werden: Schon im Aufblühen knicken und ersticken sie. Aber hier im Schauspielhaus welke Haut und abgelebte Blicke: Hier ging schon das xte Frühlingspieksen drüber. Sie quittieren es jetzt wahlweise mit Resignation oder Genussucht, mit Wut, Durchhalteparolen oder Angst ab. So möchte man fragen, na und, denn auf die spezifischen Seniorennöte ist das Stück merkbar nur zu notdürftig hingebogen. Für Moritz' Selbstmord oder den Tod Wendlas fehlt gar die logische Notwendigkeit.
Auch sonst passt einiges nicht mehr zusammen. Warum soll Melchior in ein Pflegeheim (anstelle der Korrektionsanstalt) abgeschoben werden? Er habe sich vergangen, schreit der Arzt, gemäss Text Wedekind. Aber den Grund, der für diese Version stimmt (und den wir im Original kennen), erfahren wir nicht. Mehr Augenmerk scheinen die Macher auf Alters-Schrulligkeiten zu legen: Wie Martha (Lotzmann) die Urne ihres herzallerliebsten Moritz im Blumenbeet vergräbt, wieder ausgräbt, ins Zimmer schmuggelt undsoweiter, wird zum Running Gag. Das reicht zum Schmunzeln, mehr nicht. Dass auch in Alten noch Kindliches schlummert: Das ist bekannt.
Wenig überzeugend geht die Regie mit Wedekinds Sprache um: Sie ist weder naturalistisch noch verträgt sie eine naturalistische Spielweise. Dazu ist sie zu künstlich, zu poetisch und plakativ zugleich. Wenn Wedekinds Signalsätze quasi subtil runtergebrabbelt werden, fehlt ihnen die Strahlkraft, der Transport ins Publikum. Allein Urs Bihler beherzigte dies vollständig. Dadurch liess einen das Schicksal von Bihlers Angsthasen Moritz Stiefel aller logischen Widerstände zum Trotz nicht kalt.
Die Routiniers Nikola Weisse als Wendla oder Jörg Schröder als Melchior Gabor vermochten mit ihrer ironischen Figurenverkörperung zu unterhalten. Am Berührendsten gelang ihnen die Bettszene: Sie brauchen jetzt die Körperwärme eines Menschen, dem sie dazu genügend vertrauen können – sie erwarten nicht mehr, erwarteten wohl nie mehr. Ansonsten kam aber nicht viel Frische. Im gutbesuchten Auditorium knarrten während der dreistündigen Aufführung die Stühle, Köpfe wurden aufgestützt.
Für den grimmig-monströsen Humor Wedekinds fehlte nahezu alles: Der naive Schrecken, der pubertäre Puls, das kindliche Spiel am Abgrund des Nihilismus, die ehrliche Hilflosigkeit des Gutmeinenden, der harte Griff der Realitäten – sowie Tempo und Temperament. Wenn man ein Stück nicht nach seiner Funktionsweise aufführen will, so spiele man doch aufrichtigerweise ein anderes Stück.
"Während der Arbeit (1890) bildete ich mir etwas darauf ein, in keiner Szene, sei sie noch so ernst, den Humor zu verlieren. Bis zur Aufführung durch Reinhardt (1906) galt das Stück als reine Pornographie. (...) Humor will noch immer niemand darin sehen", klagte Wedekind im Jahre 1911. Im 2011 hat ihn jedenfalls auch in Basel niemand gesehen.
15. Januar 2011