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"Neuartige Heinzelmännchen": Velokurier an der Arbeit
Ein neues Dienstleistungs-Proletariat ersetzt den klassenbewussten Arbeiter
Der Grund ist klar: Seit das Kapital an Stelle der Arbeit getreten ist, bleiben die Folgen auf den Arbeitsmarkt nicht aus.
Von Aurel Schmidt
Der klassische und klassenbewusste Arbeiter verschwindet, ein neues Dienstleistungs-Proletariat tritt an seine Stelle. Zwei Autoren versuchen, die Ursachen dieses sich deutlich abzeichnenden Wandels auf die Spur zu kommen.
Wer auf der Strasse einen Velokurier in Rennfahrer-Haltung vorbeiflitzen sieht, hat soeben eine anschauliche Demonstration der neuen Dienstboten-Gesellschaft erhalten. Der Velokurier ist für sie ein einprägsames Modell. Auch der Tankwart, der die Windschutzscheibe putzt (manchmal, selten), gehört dazu, ebenso die Haushalthilfe, der Doorman und viele andere Aushilfskräfte. Sie alle sind die Repräsentanten einer neuen sozialen Hierarchie.
Wir sind in der Gesellschaft angekommen, in der die eine Hälfte der Bevölkerung die Dienste, die die andere Hälfte anbietet und leistet, in Anspruch nimmt. Christoph Bartmann geht in seinem Buch "Die Rückkehr der Diener. Das neue Bürgertum und sein Personal" auf die sich abzeichnende neue Sozialordnung ein. Er scheint das Buch in New York, wo er seit diesem Jahr Direktor des Goethe-Instituts ist, geschrieben zu haben, weil er zu erkennen gibt, dass er sich in den gesellschaftlichen Verhältnissen in den USA bestens auskennt, von wo bekanntlich alles Neue herkommt.
Wer dort lebt, kommt ohne Warenlieferanten und andere Zustelldienste, die das Mineralwasser in die Hauseinfahrt stellen, ohne Wachleute, Pflegebetreuer, Fitnesstrainer nicht mehr aus. Selbst die Kindergeburtstags-Party benötigt einen Supervisor. In einer Nebenbemerkung könnte man sich fragen, ob eventuell die Dienste eines Liebes-Coaches, einer Leihmutter oder der Sterbehilfe ebenfalls zu dem Wandel gehören. Der Sarkasmus ist nur der Reflektionsspiegel einer gesellschaftlichen Entwicklung, die immer mehr zu einer Zweiteilung der Gesellschaft führt: hier die Dienstnehmer, dort die Dienstgeber, wobei unklar bleibt, auf wen die Bezeichnung "Geber" und "Nehmer" von Arbeit zutrifft.
Kreative Arbeit, um Qualitätszeit zu gewinnen
Bei uns ist die Entwicklung vielleicht noch nicht ganz soweit fortgeschritten, aber es kommt noch. In der Werbung begegnen wir bereits als Vorboten dem Angestellten des Supermarkts, der mit einer fröhlichen Mütze das Eingekaufte in das Auto der Kundin auf dem Parkplatz trägt.
Der naheliegendste Grund für diese Entwicklung ist darin zu finden, dass häusliche Entlastung einen Doppelverdienst gestattet. Mit dem Mehr-Lohn ist es möglich, eine Haushalthilfe anzustellen. Der Vorteil besteht dann darin, höherwertige Arbeit leisten beziehungsweise "Qualitätszeit" gewinnen zu können. Was keine kreative Vorzüge aufweise, werde, so Bartmann, "an neuartige Heinzelmännchen delegiert" – oder Heinzelfrauchen.
Das Thema hat, wie man ahnen kann, viele Seiten, die Bartmann untersucht, in narrativem, fliessend lesbarem Duktus, ohne den tieferen soziologischen Kern zu vernachlässigen. Der grösste Teil des Buchs ist zwar auf Haushalts- und affektive Arbeit (Pflege, Betreuung) beschränkt, erweitert aber, weil sehr oft Migrantinnen für diese Aufgaben eingestellt werden, das Problemfeld um eine zusätzliche Dimension.
In einer mythischen Vergangenheit bestellte die Frau das Haus, während der Mann Pfeil und Bogen oder die Flinte nahm und auf die Jagd ging. Das blieb auch dann so, als die alten Waffen durch die Notebook-Tasche ersetzt wurden. Zur Erleichterung konnte die Frau auf Dienstpersonal zurückgreifen, später auf fliessendes Wasser, Wärme, Elektrizität und noch später, bis in die Gegenwart, auf hilfreiche Haushaltgeräte aller Art.
Mann und Frau im Haushalt
Der Feminismus beschwörte eine neue Situation herauf. Die Frauen verlangten, dass auch der Mann sich am Unterhalt von Familie, Wohnung, Kinderbetreuung beteilige. Um in die Ecken zu leuchten, soll Bartmanns Diskurs hier ergänzt werden. Zugespitzt gesagt: Es entstand eine neue Arbeitsteilung. Während die Frau für das Häusliche, für Putzarbeit, Kochen und Kinderbetreuung zuständig war, hantierte der Mann mit Bohrmaschine und Rasenmäher (falls Rasen vorhanden), füllte die Steuererklärung aus, wechselte die Winterreifen. Auch die Pflege des Weinkellers fiel in seine Domäne (meistens).
Wenn Probleme auftauchten, dann lag es auch und nicht zuletzt daran, dass Bartmann und die Feministinnen immer noch die klassische Kleinfamilie für ihre Überlegungen zugrunde legen. Auch sind viele und immer mehr junge Männer heute an Beruf und Karriere gar nicht mehr in gleicher Weise interessiert wie in der Vergangenheit. Ein neues Gleichgewicht ist gerade im Begriff, sich einzustellen.
Auch die smarte Küche erleichtert die Bewältigung der Hausarbeit. An diesem Punkt, genau auf Seite 217ff, beginnt ein neuer Abschnitt in Bartmanns Buch, an dem der feministische Standpunkt abgelöst wird durch eine Kritik am Glauben an die totale Automatisierung im Haus (und implizit im täglichen Leben). Bartmann entwickelt hier einen (un)heimlichen Blick für die absurden Verhältnisse der Moderne.
Computer und Roboter als Mitbewohner im Haus
Dass viele Geräte das Leben vereinfachen, daran besteht kein Zweifel. Aber dass der smarte Kühlschrank Dich warnt, wenn die Milch ausgegangen ist, wie das schon Nicholas Negroponte 1995 in seinem Buch "Total digital" prophezeite – das ist nicht eingetreten. Anderes schon. Um zu wissen, was im Kühlschrank nachgefüllt werden muss, genügt es, die Tür zu öffnen. Sowieso gehört der Frigidaire zur Privat- und Intimsphäre, zu der nicht alle Welt Zugang haben soll, wie Bartmann feststellt.
Zuletzt wird das Reinemachen eine individuelle, das heisst analoge, nicht-maschinelle Arbeit bleiben. Schimmel in den Fugen im Badezimmer lässt sich nur von Hand entfernen. Bartmann scheint hier über genaue Kenntnisse zu verfügen. Die falschen Versprechungen widerlegt er mit der Feststellung, dass kein Roboter je die Klobürste ersetzen wird. Stimmt das? In Restaurants ist die automatische Klo-Reinigung längst im Einsatz. Probleme sind das, mit denen wir uns hier herumschlagen!
Man könne seine Wohnung mit unübersehbarem technischen Aufwand problemlos in einen "Hochsicherheitstrakt" verwandeln, meint Bartmann weiter. Wollen wir das?, fragt er rhetorisch, so dass wir gar nicht anders können, als "Nein, nein" entgegenzuhalten, wenn wir keine "existenzielle Entmächtigung" erleiden wollen. Trotzdem ist die Vermutung nicht mehr rückgängig zu machen, dass Computer und Roboter in unserer täglichen Umgebung nicht verschwinden, sondern, so Bartmann, eines Tages zu unserem affektiven Lebensbereich gehören werden wie Puppen und Plüschtiere.
Umwälzungen auf dem Arbeitsmarkt
Das Problem der Dienstboten / "digitalen Butler" / "technoiden Assistenten" ist nur die sichtbare Seite einer grossen Umwälzung auf dem Arbeitsmarkt, die heute im Gang ist. Das ist das Thema, mit dem Oliver Nachtwey vom Frankfurter Institut für Sozialforschung sich in seinem Buch "Die Abstiegs-Gesellschaft. Über das Aufbegehren in der regressiven Moderne" befasst. Wie konnte es in der Arbeitswelt zu den Verhältnissen kommen, die wir antreffen? Seine Beschreibung ist von fabelhafter analytischer Klarheit.
Unterschieden werden drei Epochen in der Geschichte der Arbeit. In der ersten wird die Automatisierung vorangetrieben. Arbeit wird reduziert, die Produktivität steigt trotzdem oder deswegen. In der zweiten Phase wird Arbeit, bisher als materielle Produktion, vermehrt in den Dienstleistungs- und Dienstbotenbereich verlagert. Die dritte ist diejenige, in der wir leben, mit einer Verschiebung von der Arbeits- in die Finanzwelt. In der postindustriellen und postmateriellen Welt löst das Kapital die Arbeit ab.
Während die Oberklasse frei von Abstiegs-Ängsten ist, versucht der Mittelstand sie durch ein Distinktionsbedürfnis zu kompensieren. Die Unterklasse unternimmt, um im Bild von Nachtwey zu bleiben, einen Anlauf, um auf der abwärts fahrenden Rolltreppe nach oben zu laufen – schwierig und wenig erfolgversprechend. Damit ist die Lage der Globalisierungs-Verlierer, der sogenannten Abgehängten, beschrieben, die nichts zu gewinnen, aber alles zu verlieren haben.
Job, Jobs, Jobs
Arbeit wird durch Kapital ersetzt. Das heisst: Es muss gespart werden, was bedeutet, dass soziale Errungenschaften abgebaut werden, was manchmal "Reform", manchmal "Modernisierung" genannt wird. Im Zeitalter der globalen Kommunikation und schier unbegrenzter Transportmöglichkeiten wird die Arbeit in Billiglohnländer verschoben, wodurch sie hier ihre Bedeutung als sozialer Integrationsfaktor verliert und der historische Arbeiter mit seinem Klassenbewusstsein von der Bildfläche verschwindet. Die postindustrielle Gesellschaft, die mit der neoliberalen identisch ist, kann gut auf ihn verzichten.
Arbeitsplätze werden substituiert durch Jobs, Jobs, Jobs, das ist das Hintergrundrauschen der neuen Sozialordnung. Oft sind es Mini- und Teilzeitjobs, in Frankreich spricht man von "petits boulots". Diese prekären Arbeitsverhältnisse sind schlecht entlöhnt, oft befristet, meistens unsicher und ausserdem ohne soziale Sicherheit. Auch "würdelos" sind sie, wie Nachtwey sagt. Er hat dafür den bildhaften Begriff der "Abstiegsgesellschaft" geprägt.
Ein neues Dienst- und Hilfspersonal breitet sich aus: Menschen, die nachts in den Tankstellen-Shops Bier verkaufen, Mitarbeiter in Call-Center, Reinigungspersonal, das abends von sieben bis neun oder zehn und morgens von sechs bis acht im Einsatz ist.
Der Widerstand nimmt zu
Es findet eine schleichende Deklassierung grosser Teile der Bevölkerung statt, die Nachtwey ebenso beschreibt, wie er auf die Gegenbewegungen eingeht, die sich heute überall in Europa und seit kurzem auch in den USA beobachten lassen. Die Menschen nehmen nicht mehr alles widerspruchslos hin. Es entstehen Bürger- oder Protestbewegungen wie in der Vergangenheit "Occupy" beziehungsweise neuestens in Frankreich "Debout la nuit" gegen die nachteilige Arbeitsmarktreform der sozialistischen Regierung.
Das hat Folgen auf das politische Leben. Die neuen sozialen Akteure haben gelernt, die modernen medialen Möglichkeiten auszunützen. In Portugal erzielten, wie Nachtwey berichtet, vier "Facebook"-Aktivisten mehr Gefolgschaft als linke politische Parteien. Aufbruch ist überall.
Auch Streiks haben zugenommen. Der erwachte Widerstand, der zum Beispiel auch die Ablehnung von TTIP einschliesst, wird von rechten und rechtsextremen Bewegungen mit demokratiefeindlichen Intentionen instrumentalisiert. Das kann keine Lösung sein, es ist die Politik von Rattenfängern. Dafür richtet Nachtwey den Blick auf die Tatsache, dass es in vielen sozialen Aktionen der jüngsten Zeit weniger um Lohnforderungen gegangen ist, sondern um Recht, Autonomie, Würde, Anerkennung, Partizipation. Um Wirtschaftsdemokratie.
Die Abstiegsgesellschaft ist eine Realität, aber sie ist vielleicht auf den untersten Treppenstufen angekommen, und ein neuer Aufstieg könnte die Folge sein.
Christoph Bartmann: Die Rückkehr der Diener. Das neue Bürgertum und sein Personal. Hanser Verlag. 287 Seiten. ca. Fr. 31.90
Oliver Nachtwey: Über das Aufbegehren in der regressiven Moderne. edition suhrkamp. 261 Seiten. ca. Fr. 22.00
18. Januar 2017