Heilige und Nymphen: #metoo auf Sizilien
"Als sie seinen Heiratsantrag ablehnte, liess er sie in ein Bordell bringen, und weil sie sich danach immer noch nicht gefügig zeigte, liess er sie foltern und ihre Brüste mit Zangen abschneiden." Die Rede ist von der 15-jährigen Agatha aus Catania auf Sizilien, die wegen ihres christlichen Glaubens jungfräulich bleiben wollte und den Heiratsantrag eines römischen Statthalters ablehnte. Sie wurde dann auf glühende Kohlen gelegt und verstarb im Gefängnis.
Heute, am 5. Februar, ist ihr Gedenktag. Catania ist im Ausnahmezustand, ein bisschen so wie Basel während der Fasnacht. Es gibt Prozessionen durch die Stadt, ein grosses Feuerwerk, die Bäckereien verkaufen kleine Zuckerkuchen, die aussehen wie Brüste, und Ballonverkäufer ziehen ihre bunten Tiere durch den Nachthimmel. Catania liegt am Fuss des Ätna, die heilige Agatha soll die Menschen vor allem vor diesem Ur-Berg schützen. Ich stand letzte Woche am Krater des Vulkans: Die Sehnsucht nach einer Beschützerin ist gut nachvollziehbar.
Die Nachbarstadt Syrakus hat auch eine Schutzheilige: Die junge Christin Lucia wollte nicht heiraten und sollte zur Strafe in ein Bordell gebracht werden, aber ein Ochsenkarren und 1'000 Männer konnten sie nicht dazu bewegen. Zur Strafe wurden ihr die Augen ausgestochen, sie verstarb an Schwertstichen in den Hals. An ihrem Gedenktag trägt man weisse Kleider, häusliche (oder eher "haus-frauliche") Elemente wie Backen und Singen prägen das Fest.
"Zu sehen ist der griechische Krieger Hylas,
der von nackten Nymphen verführt wird."
Das Wohl von Syrakus liegt aber nicht nur in christlichen Händen. Das Wasser etwa verdankt die Stadt einer Nymphe aus der griechischen Mythologie: Arethusa. Sie wollte nach einem Sporttraining im Fluss Alpheios schwimmen, der sich sofort in sie verliebte "und sie bedrängte". Arethusa wollte nichts von ihm wissen und bat ihre Beschützerin Artemis um Hilfe. Artemis verwandelte sie in eine Quelle und das Wasser floh von Griechenland nach Syrakus. Der Flussgott verfolgte die Nymphe aber durchs Meer und vermischte sich am Ende doch mit ihr.
Die Arethusa-Süsswasserquelle ist bis heute der zentrale Stadtbrunnen und beherbergt neben ein paar Plastikflaschen Goldfische und dicke Enten. Ihre unmittelbare Nähe zum Meer verwundert immer noch.
Ich habe Catania und Syrakus mit Freunden bereist und wir haben festgestellt: Vor dem Hintergrund der aktuellen #metoo-Diskussionen verunsichern uns Geschichten wie die der Agatha, Lucia und Arethusa. Sind die Flussgötter und Statthalter so etwas wie antike Harvey Weinsteins? Auch die Kunstwerke, die das Schicksal dieser Freuen thematisieren, lösen Unbehagen aus. Ein Bild von Arethusas Flucht aus dem 18. Jahrhundert beispielsweise stellt eindeutig eine Vergewaltigung dar. Die Frage ist: Wie gehen wir damit um?
In Englang hat die "Manchester Art Gallery" vergangene Woche ein Bild von John William Waterhouse aus dem Jahr 1896 für eine Weile entfernen lassen, um diese Debatte voranzutreiben. Zu sehen ist der griechische Krieger Hylas, der von nackten Nymphen verführt wird. Auch hier stellt sich die Frage: Sollen aktuelle Wert-Massstäbe auf Bilder der Vergangenheit angewandt werden?
Das Zensur-Argument spricht dagegen: Museen müssen ihren Besuchern ein eigenes Urteil zutrauen. Bilder entfernen zu lassen, ist bevormundend. Was es braucht sind gute Informationen zum Entstehungskontext der Kunstwerke, die aber an sich vor allem ästhetisch, also zeitlos schön seien. Einige Vertreterinnen der #metoo-Bewegung finden ausserdem, solche "Museums-Diskussionen" würden den Blick auf drängendere Probleme versperren.
Das Argument, alle Ideen müssten immer in ihrem Kontext verstanden und entsprechend relativiert werden ("das war damals halt so") hat aber bekanntermassen zu der problematischen Verunsicherung geführt, dass es keine Wahrheiten mehr gäbe. Die Vorstellung, es existiere so etwas wie alternative news ist eine Folge davon, aber auch die (häufig "linke") Tendenz, Gewissheiten aufzulösen oder zu ironisieren.
Wir könnten aber sagen, dass wir Gewalt gegen Frauen und Sexismus – genau wie Rassismus oder Antisemitismus – grundsätzlich und unabhängig von politischen Positionen für falsch halten. Dann handelt es sich um ein ethisches Prinzip, das uns zwingt, auch Geschichten und Bilder aus der Vergangenheit neu zu beurteilen.
Wie dem auch sei: Für Agatha, die ihren Widerstand mit dem Tod bezahlt hat, wird heute in Catania ein rauschendes Fest gefeiert. Die schwierige Frage, ob Menschen und ihre Peiniger ein antikes oder vielleicht doch zeitloses Problem sind, muss weiter diskutiert werden.
5. Februar 2018
"Gerade die Linke löst Gewissheiten auf"
Die Kolumne gefällt mir, weil sie kulturgeschichtlich die #metoo-Debatte angeht. Der Bezug zur Auflösung des Wahrheitsbegriffes ist anregend. In einer Gesellschaft, in der alles geht, wird auch die ethische Wahrheit aufgelöst. Die Kommunikation wird ausserordentlich erschwert, weil verbindliche, gemeinsame Denk und Handlungselemente sich aufgelöst haben.
Die Behauptung "Die Vorstellung, es existiere so etwas wie alternative news ist eine Folge davon, aber auch die (häufig "linke") Tendenz, Gewissheiten aufzulösen oder zu ironisieren", ärgert mich allerdings sehr. Es wäre wirklich zu beweisen, dass gerade die Linke Gewissheiten auflöst. Nach meinem Eindruck ist es eher die Rechte, die an ihrem rechten Rand Leute beherbergt, die Geschichte verfälschen und von der Nazi-Vergangenheit nicht loskommen.
Xaver Pfister, Basel
"Gewalt beschränkt sich nicht nur auf Frauen"
Wir waren im Herbst 2017 in Sizilien. Catania, der Ätna, Syrakus – alles sehr eindrücklich und wundervoll. Unsere Reiseführerin aus Palermo brachte uns die unermessliche Geschichte Siziliens anschaulich nahe, gerade auch die vielen Legenden. Die im Artikel geschilderten Schicksale der Märtyrerinnen sind gewiss sehr arg.
Das Problem der Gewalt beschränkt sich sich aber überhaupt nicht nur auf Frauen, sondern auf alle Menschen. Unerträglich ist es doch, wie heute gerade im Fernsehen und auf den Handy-Bildschirmen, die die Jugendlichen täglich exzessiv konsumieren, Gewalt verherrlicht wird! Böllerei, Krieg, Horror als Spiel und Normalität.
Dieser kranken Welt muss die Stirne geboten werden mit Alternativen, die Verständnis, Rücksichtnahme und Parteiergreifung für die Schwachen und Moribunden ergreift.
Fredi Vogelsanger, Oberwil