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"Viele fühlen sich vernachlässigt": Neue Bundesrätin Micheline Calmy-Rey
Alarmglocke der SPS gegen "Speckgürtel"-Politik der Schweizer Post
Erster offizieller Auftritt der neuen Bundesrätin Micheline Calmy-Rey vor den Delegierten in Liestal
Von Peter Knechtli
Protest gegen Zentralisierungs-Pläne der Post und den Abbau des Service public: Die Delegierten der Sozialdemokratischen Partei der Schweiz (SPS) forderten am Samstag in Liestal die Beibehaltung des Post-Monopols. Gleichzeitig wurde die neue Bundesrätin Micheline Calmy-Rey herzlich empfangen.
Doch gleich nach der warmen Begrüssung durch die am Mittwoch neu gewählte SP-Bundesrätin Micheline Calmy-Rey (vgl. Kasten) zog eine steife politische Bise auf: Die Art, wie Verwaltungsrat und Konzernleitung der Schweizerischen Post die Reorganisation der Briefverteilzentren ("Rema") durchzuziehen planten, stiess auf den ebenso einhelligen Protest der Delegierten wie die Liberalisierungspläne des Gelben Riesen überhaupt.
Für öffentliche Monopole
Scharf ging der Aargauer Nationalrat Urs Hofmann als Präsident der parteiinternen Arbeitsgruppe "Service public" mit der Post-Spitze ins Gericht. Schon an ihrem Parteitag vom Oktober 2000 in Lugano habe die SP dem Service public "höchste Priorität" beigemessen. Damals hätten bürgerliche Parteien "noch kaum gewusst, was mit diesem Begriff überhaupt gemeint ist".
Die SP wolle nicht eine Post von gestern, sondern eine "effiziente und moderne Post von morgen". Aus nicht nachvollziehbaren Gründen wehre sich die Post aber nicht für die guten Rahmenbedingungen, die ihr das Postgesetz biete. Vielmehr habe sie den Nationalrat selbst ersucht, "zu einer Aushöhlung ihrer finanziellen Basis Ja zu sagen". Doch die vom Bundesrat gestützte Strategie der Senkung der Monopolgrenze für Pakete und Briefe sei "verhängnisvoll" und "zwangsläufig mit einem Verlust an Marktanteilen und Deckungsbeiträgen verbunden". Hofmann brach eine Lanze für öffentliche Monopole, "weil nur sie Garantie für eine flächendeckende Grundversorgung zu fairen Preisen für alle bieten".
Noch bleibe zweifelhaft, ob die Post-Spitze bereit sei, ihre Umstrukturierungen sozial und regionalveträglich zu gestalten, nachdem Präsident Anton Menth am Freitag in der NZZ entsprechende Aussagen zu den Briefzentren ("die reine Dreierlösung bleibt der Massstab und die erstrebenswerte Referenzgrösse") gemacht habe. Fraglich sei auch, ob mit einer scheinbaren Überarbeitung der Pläne die Gewerkschaften "zur Vermeidung eines Streiks vor Weihnachten bloss ausgetrickst werden sollen". Sollte dies der Fall sein, dann wären "personelle Konsequenzen an der Postspitze unumgänglich", forderte Hofmann.
Noch weiter gingen in der anschliessenden Diskussion verschiedene Delegierte aus der Romandie, die den Kopf von Post-Chef - und SP-Genosse - Ulrich Gygi und Verwaltungsratspräsident Anton Menth forderten. Die Gefahr bleibe bestehen, dass trotz des breiten Widerstands die Briefzentren im "Speckgürtel Mittelland" (so ein Bündner Delegierter) angesiedelt würden. Parteipräsidentin Brunner indes dämpfte ab und erklärte, mit Forderungen nach einem Köpferollen sei den Mitarbeitenden der Post nicht gedient.
Leuenbergers kritische Zwischentöne
Bundesrat Moritz Leuenberger hielt sich moderat und teils ironisch im Ton - selbst als während seines Referats das Handy in seiner Aktentasche die Landeshymne als Rufton enthüllte -, doch seine Kritik am Vorgehen der Postspitze war unüberhörbar. Die Post habe eine "emotionalen Stellenwert". Den gelte es "zu nutzen und nicht zu zerstören". Dies schliesse ein, notwendige Reformen mit Gewerkschaften, Regionen und der Bevölkerung gemeinsam umzusetzen. Leuenbergers Seitenhieb an Parteikollege Gygi: "Kommunikation ist keine Befehlsausgabe, sondern ein Dialog."
Leuenberger versuchte aber auch die Delegierten von der Notwendigkeit eines Reformprozesses zu überzeugen. So hätten in den neunziger Jahren auch die SBB reorganisieren und 10'000 Arbeitsplätze abbauen müssen. Heute seien sie "eine der besten Bahnen Europas". Auch die Post habe schon Veränderungen hinter sich: So Zahlungen über Internet, Pre-Paid-Karten, SMS-Integration oder Hausservice. Während die EU die Postmärkte viel rascher liberalisierten, wolle die Schweiz den Paketmarkt erst in zwei Jahren öffnen, sagte der Postminister. Im Jahr 2006 soll die Monopolgrenze bei Briefen auf 100 Gramm gesenkt werden. Dies aber nur, wenn die Finanzierung der Grundversorgung gesichert sei: "Sollte sich abzeichnen, dass der Service public in Gefahr geraten sollte, werden wir diesen Schritt verschieben und flankierende Massnahmen treffen."
"Konkurrenz soll Gebühren zahlen"
Nach der Debatte verabschiedeten die Delegierten eine Resolution "für eine starke Post". Darin heisst es, bei der Modernisierung müssten Sozial-, Regional- und Umweltverträglichkeit gleich hoch gewichtet werden wie die betriebswirtschaftliche Optimierung. Diese Balance sei beim "Rema"-Projekt "sträflich vernachlässigt" worden. Der Bundesrat wird aufgefordert, vor allem bei der Briefpost auf eine Absenkung der Monopolgrenze zu verzichten. Ebenso müsse der Bundesrat vom Recht auf Erhebung von Konzessionsgebühren bei den Post-Konkurrenten "unverzüglich" Gebrauch machen. Überdies soll die Landesregierung alles unternehmen, um der Post die Erschliessung neuer Geschäftsfelder wie Bankdienstleistungen, Zahlungsverkehr über Mobilfunk und umfassende Internetangebote zu ermöglichen.
Düstere Wirtschaftsprognosen für die Schweiz
Weshalb es die SP brauche, um die wirksamen Rezepte gegen die düsteren Wirtschaftsentwicklung umzusetzen, machte die Baselbieter Nationalrätin und Regierungsratskandidatin Susanne Leutenegger Oberholzer (Bild) den Delegierten klar. Mit einer Quote von 3,3 Prozent oder 120'000 Personen habe die Arbeitslosigkeit in der Schweiz im November einen neuen Höchststand erreicht. Dies sei die Folge des Neoliberalismus der neunziger Jahre, der weltweit versagt habe. In der Schweiz hätten die Freisinnigen bei der Swissair ein 17-Milliarden-Loch hinterlassen, die "Visionen" von Martin Ebner und Christoph Blocher sei ein der SVP nahestehendes polit-ökonomisches Projekt gewesen und die Freisinnigen hätten aus der soliden Rentenanstalt eine "Selbstbedienungs-AG" gemacht.
Zehn Jahre nach dem Nein des Schweizer Volks zum EWR-Beitritt zieht Leutenegger Oberholzer ein ganz anderes Fazit als der damalige Nein-Exponent Blocher: Das Bruttoinlandprodukt pro Kopf der Bevölkerung stagniert, die verfügbaren Einkommen vieler Lohnabhängiger und Rentenbeziehenden sei gefallen, während die übrigen Efta-Länder, die den Beitritt zu EWR oder EU gewagt hätten wirtschaftlich massiv aufgeholt hätten. Darum müsse die Schweiz in die EU, erforderlich sei ein jährliches Wirtschaftswachstum von mindestens zwei Prozent.
Nein zu Scheinreform der Volksrechte
Wenig Gesprächsstoff boten die beiden Abstimmungsvorlagen vom 9. Februar nächsten Jahres. Zur Änderung der Volksrechte beschloss die SP mehrheitlich die Nein-Parole. Der Zürcher Nationalrat Andreas Gross vermochte mit seiner Einschätzung zu überzeugen, es handle sich um eine "Scheinreform", die den grössten Reformbedarf in der Direkten Demokratie ignoriere. So sei es innerhalb weniger Jahre schwieriger geworden, vor Abstimmungslokalen Unterschriften zu sammeln, seit fast 90 Prozent der Stimm- und Wahlzettel brieflich abgegeben würden. Ein Antrag auf Stimmfreigabe scheiterte deutlich.
Ein klares Ja bei einer Gegenstimme setzte die Parolenfassung zum Bundesgesetz über die Anpassung der kantonalen Beiträge für die innerkantonalen stationären Behandlungen ab.
Mit Akklamation wurde Reto Gamma als Generalsekretär für weitere zwei Jahre wiedergewählt. Bei der Erläuterung zum Budget war von Vizepräsident Hans-Jürg Fehr zu erfahren, dass sich der Mitgliederschwund "eher beschleunigt als verlangsamt" habe. Die eidgenössischen Wahlen des kommenden Jahres will die SP mit einem eigens aufgebauten Kampagnen-Team ("Campa 03") dafür nutzen, junge Wählende zu gewinnen. So werde das Internet eine markant steigende Bedeutung einnehmen.
7. Dezember 2002
Rosen, Tee und Stein: Warmer Empfang für die neue Landesmutter
"Viele fühlen sich vernachlässigt": Neue Bundesrätin Micheline Calmy-Rey
Trotz Mitglieder-Erosion präsentierte die sich SPS im Liestaler "Engel-Saal" als Siegerpartei. "Den Posten Imagepflege können wir aus unserem Wahlkampfbudget streichen", meinte der Baselbieter Regierungsratskandidat Urs Wüthrich (Bild). Parteipräsidentin Christiane Brunner habe in letzter Zeit "gleich drei Parteien gemanagt", Fraktionschefin Hildegard Fässler sei als "strahlende Reklamesäule durchs Bundeshaus gewandelt und schliesslich sei die Nachfolge von Ruth Dreifuss nach Wunsch geglückt.
Höhepunkt der Selbstdarstellung war denn auch der von einer stehenden Ovation begleitete Einzug der neuen SP-Bundesrätin Micheline Calmy-Rey. In schwarzer Hose und schwarzem Jacket, bewusst und ohne Gesten des Triumphs, trat sie vor die Basis. Vor allem von Frauen und der Partei-Jugend wurde sie symbolträchtig beschenkt: Die Rosen als sozialisitisches Emblem, Tee für die Teeliebhaberin und ein Schmuckstein in Herzform aus Lapislazuli, das fiebersenkend, kopfschmerzmildernd und spirituell stimulierend wirken soll.
Vor einer Fragestunde durch das ABC der Bundespolitik, das sie mit meist unverbindlichen Antworten mühelos überstand, bedankte sich Micheline Calmy-Rey herzlich bei ihrer unterlegenen Mitbewerberin Ruth Lüthi.
In ihrer ersten Rede an die Delegierten bekannte sich die neue Landesmutter zum Prinzip des ausgebauten Service public und gegen eine Kultur des kurzzeitig orientierten Populimus und diagnostizierte in der Schweiz eine "politische Krise". Im Ergebnis der kürzlichen Abstimmung über die Asylinititive der SVP sehe sie ein "Zeichen der Verwirrung": Viele Leute glaubten nicht mehr an die politische Aktion und fühlten sich von den Behörden vernachlässigt. Zum Schluss ihrer Rede doch noch ein Markenzeichen der Hoffnung: Das breite Lachen der Genfer Magistratin.