... Rebstein: Der Dalai, der Drache und das Paradies
Das Interesse an Asien und insbesondere an China ist gross. Das Zentrum der Welt verschiebt sich langsam aber sicher vom atlantischen in den pazfischen Raum. Wirtschaftlich zunächst und vor allem. Zunehmend aber werden China, Indien, Japan, Indonesien in der Weltpolitik ein gewichtiges Wort mitreden. Dass damit das Asiatische oder Chinesische oder Indo-Chinesische Jahrhundert angebrochen sei, wird zwar von Ökonomen und journalistischen Kommentatoren oft und gerne wiederholt. Zu bedenken aber ist, dass auch in Asien die Bäume nicht in den Himmel wachsen und – vor allem – dass trotz aller Unkrenrufe Amerika and Old Europe noch lange nicht auf dem Abfallhaufen der Geschichte gelandet sind.
In Amerika, Europa und der Schweiz ist jedenfalls die Asien-Faszination eine Mischung aus Staunen, Bewunderung und Angst. Die "Gelbe Gefahr" wird von vielen Medien wieder beschworen, wenn auch nicht so kriegslüstern wie Kaiser Willhelm II. vor rund hundert Jahren in seiner berüchtigten Hunnenrede. Frankreichs Napoleon brachte es indes schon vor rund zweihundert Jahren in einer etwas gewählteren Sprache die europäische Angst auf den Punkt: "Lasst den Drachen schlafen. Wenn er aufwacht, wird er den Erdkreis erschüttern."
Die interessierten Leser und die klugen Leserinnen, die bis zu dieser Stelle des Textes vorgedrungen sind, werden sich fragen, was ums Himmels Willen das alles mit einem "Brief aus Rebstein" zu tun hat. Die einfache Antwort ist, dass Schweizer und Schweizerinnen an diesem asiatisch-chinesischen-indischen-japanischen Thema genauso interessiert sind wie der Rest der Welt. So bin ich denn neulich auf einer Vortrags-Tournee in der Zentral- und Ostschweiz eben auch im rheintalischen Rebstein gelandet. Zum ersten Mal im Leben, notabene.
Warum denn in die Ferne schweifen – das Gute liegt so nah. So oder ähnlich habe ich das in meiner Schulzeit auswendig gelernt. Wie wahr, wie wahr – nach so vielen Jahren unterwegs auf dem Globus fiel es mir in Rebstein wie Schuppen von den Augen. Zugegeben, ich hatte Glück. Es war der erste, strahlend blaue Frühlingstag. Das Panorama mit den schneebedeckten Bergen unbeschreiblich. Schöner als in jedem Tourismus-Prospekt. Im Rebsteiner "Ochsen", einer gemütlichen Beiz, gab es herrlichen Rebsteiner Beerli-Wein. Und noch immer, fein säuberlich beschriftet, ein "Raucher-Zimmer".
Am Abend nach dem Vortrag viele gescheite Fragen. Aktuell in den News war gerade die Meldung, wonach der Bundesrat beschlossen hat, den Dalai Lama bei seinem Schweizer Besuch aus "terminlichen Gründen" nicht zu empfangen. Diskussionsstoff natürlich. Im Saal und am nächsten Tag in den Medien waren die meisten empört, ja aufgebracht, dass keine und keiner der sieben Magistratinnen und Magistraten auch nur eine halbe Stunde Zeit gefunden hätte, um "seine Heiligkeit" zu empfangen.
Mich hingegen, erklärte ich in meiner Antwort unter dem Raunen der Zuhörerinnen und Zuhörer, empört nicht das Faktum, dass der Dalai Lama nicht vom Bundesrat empfangen wird, sondern die läppische Termin-Ausrede. Es gibt durchaus gute Gründe, warum Regierungen den Dalai Lama nicht empfangen sollten. Offiziell werden ja solche Visiten immer mit dem Beiwort "spirituell" versehen. Das ist Augenwischerei. Wenn Präsident Obama, Bundeskanzlerin Merkel oder ein Schweizer Bundesrat den Dalai Lama empfangen, ist das natürlich nicht "spirituell" sondern hochpolitisch. Warum besucht der Dalai anstatt Politiker, Regierungschefs oder Präsidenten nicht hauptsächlich religiöse Führer, in der Schweiz etwa den Vorsitzenden der Bischofskonferenz, den Oberrabbiner, muslimische Geistliche? Eben!
Gewiss, das Tibet-Problem ist komplex. Es gibt keine einfachen Antworten. Den Rebsteinern gab ich folgende Formel beim Betrachten der Tibet-Problematik mit auf den Weg: Nicht alles, was die chinesische Regierung zu Tibet sagt, ist falsch – nicht alles, was die tibetische Exil-Regierung sagt, ist richtig.
Vom Rheintal führte die Reise bequem im "Voralpen-Express" – das gibt es tatsächlich – kreuz und quer durch die Ostschweizer Landschaft. Ob es die Schweizerinnen und Schweizer wahrhaben wollen oder nicht: Der öffentliche Verkehr ist Weltklasse. Genausogut wie die Gesundheitsvorsorge und die AHV. Und zugegebenermassen etwas kostspielig. Aber Spitzen-Qualtität war ja schon immer etwas teurer. Dass wir dagegen vieles spottbillig in Kaufhäusern und bei Grossverteilern einkaufen können, haben wir vor allem Asien (China, Indien, Bangladesh, Indonesien, Vietnam undsoweiter) zu verdanken.
Die Rebsteiner und die übrigen Schweizer leben trotz Abzockern aus der überheblichen ökonomisch-politischen Elite im Paradies. In jeder Beziehung. Nur wissen es viele noch nicht. Oder nicht mehr. Verteilen wir doch demokratische Denkzettel. Das kann man nur in der Schweiz.
22. März 2010
"Erinnerungen an ein anders Rebstein"
Für einmal ein persönlicher Feedback dazu, was dieser Brief bzw. sein Titel – wohl unter vielen anderen Reaktionen – eben auch noch ausgelöst hat.
Es war dieser Tage beim medialen Dauerthema "Sexueller Missbrauch in katholischen Internaten" nicht der erste Backflash, aber einer, der bei mir relativ tief ging. "Brief aus Rebstein – der Dalai, der Drache und das Paradies", von Peter Achten? Warum ausgerechnet Rebstein – und warum gerade jetzt? Warum Paradies und warum Drache?
Rebstein hat für mich eine ganz andere Bedeutung als für Peter Achten, ganz sicher aber nicht die Verbindung mit dem Paradies – im Gegenteil. Rebstein war für mich in meiner Jugend zwischen 12 und 14 Jahren eher die Hölle, bestenfalls der von Achten erwähnte Drache. In Rebstein gab es nämlich bis etwa Mitte-Ende der siebzger Jahre ein katholisches Internat das von den Patres der Bethlehem Missionare von Immensee geleitet wurde: das "Progymnasium Rebstein" mit den ersten zwei Jahre Gymnasium, die weiteren Klassen waren im Internat in Immensee/SZ.
Um es vorweg zu nehmen: Die Schule und die meisten Lehrer waren hervorragend. Nachdem ich zwei Jahre zuvor in Basel in der Realschule zweimal auf Probe befördert worden war (und schon in der Primeli keine Schul-Leuchte war) – ganz einfach, weil ich zu faul war, hagelte es plötzlich in meinen Zeugnissen nur so von "6"-ern. Allerdings hatte ich ja gar keine andere Wahl: Jeden Tag zwei bis drei Stunden "Studium", also immer episch vollzogene Hausaufgaben. Das war das positive Erlebnis, das mir unter dem Strich aufgezeigt hat, was ich – zumindest schulisch – zu leisten imstande war.
Und das negative? Das Internat war darauf ausgelegt, aus den einstmals 12- bis 13-Jährigen dann nach acht Jahren Gymnasium katholische Priester im eigenen Priesterseminar ("Missionare für die armen Heiden") zu machen. Dafür zahlten die Eltern eine sehr bescheidene Pension von knapp tausend Franken pro Jahr (was auch schon Ende der fünfziger Jahre vergleichsweise wenig war). Und auf dieser "barmherzigen" Basis gabs nur eines: aus den anbefohlenen Buben auf Teufel komm raus Priester machen. Das hiess in der Praxis ganz einfach: religiös verbrämter Psychoterror, 24 Stunden täglich, viermal täglich in die Kirche und zu jeder passenden und unpassenden Gelegenheit beten: vor der Schulstunde und danach, vor dem Essen und danach – bis zum Überdruss. Alles drehte sich wie auf der Rössliryti nur um Religion – und um die Unterdrückungen jedweder sexueller-erotischer Gefühle und Fantasien der pubertären Buben mit Schwergewicht Verhinderung der sexuellen "Selbstbefleckung".
Etwa alle zwei Monate war ein persönliches Spiritual-Gespräch angesagt, was nichts anders war als ein Verhör mit dem Ziel: "Ist denn der Bub noch auf dem richtigen Pfad zum Priester". Wer nicht spurte und pubertär (wie etwa ich) aufmuckte, wurde gnadenlos zurück auf den Moral-Pfad getrieben, da war jeder Trick gut genug. Am beliebtesten war die Förderung des permanenten schlechten Gewissens, damit liess sich am besten manipulieren – idealerweise mit einer verklausulierten unmenschlichen Sexualmoral, die uns pubertären Buben in Form von enormen Schuldgefühlen am nachhaltigsten eingefahren ist.
Nein, tätliche sexuelle Übergriffe habe ich keine erlebt und sind mir auch nicht zu Ohren gekommen. Allerdings gab es da schon zwei, drei Patres, die sich etwas mehr als üblich zu uns Buben hingezogen fühlten. Das ist mir allerdings erst später aufgegangen. Zum Beispiel O-Ton eines Paters einmal während des Mittagessens: "Ich lege Wert darauf, dass ihr Buben nicht so kurze schamlose Turnhösli anzieht, das schickt sich nicht". Ich hab diesen Wunsch damals nicht so richtig verstanden. Für mich war das nie ein optisches Problem. Erst später ist mir aufgegangen, dass das wohl das persönliche Problem dieses Paters gewesen sein muss.
Ich habe kürzlich den "Zyschtigs-Club" gesehen zum Thema sexuelle Übergriffe und dabei einen weiteren Backflash erlebt: Sowohl der beteiligte Bischof aus St. Gallen als auch ein Priesterlehrer aus Engelberg droschen noch genau die gleichen verlogenen religiösen Sprüche und Verklausulierungen zu Sexualität und Zölibat, wie ich sie schon vor 50 Jahren in Rebstein gehört und über eine gewisse Zeit auch geglaubt hatte. Übrigens: Ich bin nach der dritten Klasse im Gymnasium in Immensee trotz sehr guter Noten fluchtartig ausgetreten und habe dann eine Berufslehre angefangen.
Warum ich das erzähle? Nun, die jetzt zutage tretenden sexuellen Übergriffe an solchen Internaten (nicht nur an katholischen) sind für die meisten direkt Betroffenen ohne jeden Zweifel traumatisch. Vergessen wird dabei aber, dass es in diesen Internaten (gerade an religiös motivierten) noch ganz andere Übergriffe gab, die nicht "tätlich" waren, sondern blanker Psychoterror, der bei heranwachsenden Kindern/Jugendlichen ebenfalls tiefe Spuren hinterlassen hat. Bei mir jedenfalls so, dass ich diesen Drachen, den ich auch in einer späteren Psychotherapie relativ erfolgreich "bekämpft" habe, doch immer wieder spüre, erst recht bei der aktuell überbordenden Diskussion um die sexuellen Übergriffe.
X. X., (richtiger Name und Wohnort der Redaktion bekannt)
"Einmal mehr charakterlose Argumente"
Merci für diesen Artikel. Der Inhalt ist unspektakulär, aber so sehr gut, dass ich ihn meinen Freunden empfehlen werde. Herr Achten hat aufgezeigt, in welch herrlichen Land wir leben. Auch unsere momentane Regierung ist treffend beschrieben worden. Einmal mehr charakterlose Argumente zu einem Thema, zu dem, wie Herr Achten richtig sagt, auch einmal klar politisch Stellung genommen werden sollte. Der Dalai Lama sollte sich mit seinesgleichen unterhalten.
Ich freue mich schon wieder auf den nächsten Artikel auf OnlineReports von Peter Achten und Weiteren.
Rolf Hermann, Schönenbuch