... Bandung: Moralfreie Geschichte
Die Fahrt von der indonesischen Hauptstadt Jakarta nach Bandung ist heute weniger mühsam als noch vor zehn Jahren. Eine Autobahn in die Hochebene der Parahayangan-Berge zur Provinzhauptstadt von Java Barat (Westjava) ist schon fast fertig gestellt. Mit dem Zuge reist der Kluge natürlich noch bequemer und schneller nach Bandung,
Bandung hat einen klangvollen Namen: Stadt der Blumen. Zur Zeit der holländischen Kolonialherren wurde die Stadt im milden Bergklima 1920 Hauptquartier der Streitkräfte. Offenbar hielten die niederländischen Militärs das feucht-heisse Tropenklima in Batavia (heute Jakarta), der damaligen Hauptstadt von Niederländisch-Indien, nicht mehr aus. Bandung entwickelte sich schnell und machte sich unter den Ausländern wegen des europäischen Ambiente mit dem Boulevard Jalan Brage bald einen Namen als "Paris des Ostens". Viele der damals entstandenen prächtigen Kolonialbauten im Art-Déco-Stil sind noch heute zu bewundern. Wirtschaftlich freilich spielte Bandung in der Vulkan-Region schon im 19. Jahrhundert eine wichtige Rolle, vor allem als Zentrum prosperierender Kaffee-, Tee- und Chinarinden-Plantagen.
Heute ist Bandung eine moderne Grossstadt mit einer Elite-Hochschule für Technologie. Deshalb haben sich in Bandung neben der Textil- und Lederwarenindustrie auch die Maschinenindustrie und Produktionsstätte für Flugzeugbau etabliert. Wie viele Einwohner Bandung genau zählt, ist wie in andern indonesischen und südostasiatischen Staaten schwer auszumachen. Offiziell erscheint Bandung nach der Hauptstadt Jakarta auf der Insel Java und Medan auf Sumatra mit 2,7 Millionen Einwohnern als drittgrösste Stadt Indonesiens in der Statistik. "Vermutlich sind es weit über drei Millionen", sagen übereinstimmend zwei befragte Taxichauffeure und der Beamte in der Stadtverwaltung, Abteilung Statistik.
Bandung hatte in meinen Ohren schon immer einen ganz besondern Klang. Die Bandung-Konferenz von 1955 nämlich mit den legendären Politikern Nehru, Tschou En-lai, Sukarno und Nkrumah versuchte mit einer "Bewegung der Blockfreien" mitten im Kalten Krieg eine neue Ordnung zu etablieren zwischen dem von der Sowjetunion bestimmten kommunistischen Osten und dem von den USA angeführten demokratischen Westen. An dieser Konferenz wurde erstmals der noch heute gebräuchliche Begriff "Dritte Welt" als Abgrenzung zur Ersten Welt (der industrialisierte Westen) und der Zweiten Welt (Ostblock) in die Politik und Medien eingeführt.
Die Absichten der Staatsführer aus Asien und Afrika, die mehr als die Hälfte der Menschheit vertraten, waren gewiss ehrenwert, denn sie forderten eine neutrale Haltung zwischen Ost und West, Unabhängigkeit für unterdrückte Völker, Durchsetzung der Menschenrechte, Abrüstung und Atomwaffen-Verbot sowie Entwicklungshilfe. Doch die in Bandung feierlich beschworene Solidarität hielt in der Schwarz-Weiss-Welt des Kalten Krieges nicht lange. Kein Jahrzehnt später inszenierte Sukarnos Nachfolger, General Suharto, ein Pogrom gegen die in Indonesien zum Teil seit Generationen ansässigen Chinesen. Hunderttausende starben. Offizieller Vorwand: Kampf gegen den Kommunismus. Die Bewegung der Blockfreien war tot.
Mit Staunen und - obwohl als Journalist ziemlich abgebrüht - auch mit ein wenig Ehrfurcht stehe ich im Konferenzsaal und versuche mich an jener Jahre des Aufbruchs der Dritten Welt zu erinnern. Die nüchterne Erkenntnis: Hehre Ideale sind gut für Sonntags-, Parteitags- und andere assortierte Reden und öffentliche Bekenntnisse. Wenns drauf ankommt, gelten meist nur noch die Staatsinteressen. Moralfrei.
Doch Geschichte sollte man nicht allzu eng sehen. Im Geologischen Museum von Bandung sind Artefakte des berühmten Java-Menschen zu sehen. Zur Erinnerung: Vor rund sieben Millionen Jahren trennten sich in Afrika die Homoniden von der Tierwelt (beispielsweise Menschenaffen wie Schimpansen und Gorillas, am besten im Basler Zolli zu besichtigen ...). Der erste Urmensch ausserhalb Afrikas war unter anderem der Homo Erectus, und der lebte vor ein bis zwei Millionen Jahren - wenn nicht präzis in Bandung so doch auf der Insel Java. Daher auch die gebräuchliche Bezeichnung "Java-Mensch". Bis zum Homo Sapiens und dem Homo Sapiens Sapiens - also Sie, liebe Leserinnen und Leser - dauerte es dann nochmals bis etwa 100'000 vor Christus. Bandung im Jahr 1955 ist unter dieser Perspektive vielleicht doch nicht so deprimierend.
Aber dieses Zentrum ist wie ach so viele südostasiatische Grossstädte ein oft undurchdringlicher Verkehrsdschungel. Die Fahrt zum Bahnhof vom Art-Déco-Hotel "Preanger" dauerte gut zwei Stunden. Allerdings wendete der freundliche Taxichauffeur - "just call me Tim" - den Touristen-Trick aller Taxifahrer dieser Welt an: Umwege, Umwege, Umwege. Ich habs bemerkt, schliesslich war ich in Studentenzeiten auch mal Taxifahrer und bereits zum dritten Mal in der Stadt. Trotzdem blieb am Schluss noch Zeit für ein gemeinsames Mittagessen: Ein gutes Gespräch, Nasigoreng, Tee und zum Dessert Nelken-Zigaretten.
14. September 2009