... Kashgar: Seidenstrasse
Kashgar liegt am westlichen Rand des Tarim-Beckens in Zentralasien, dort wo sich die südliche und nördliche Route der Seidenstrasse wieder vereinen, nur um von dort in nordwestlicher, westlicher, südwestlicher und südlicher Richtung nach Russland, Europa, den Nahen Osten und Indien zu führen. Natürlich ist im Zeitalter der Düsenjets sowohl die klassische Seidenstrasse zu Lande wie die weniger erwähnte Seidenstrasse zur See buchstäblich alte Geschichte, wenn auch zunehmend lukrativ für den Tourismus.
Die Seidenstrasse ist Legende. Güter und Ideen wurden auf diesem weitverzweigten Netz jahrhundertelang ausgetauscht. Schon die alten Römer - für einmal ist das Sprach-Klischee angebracht - schwärmten von der Fein- und Buntheit der Seide. Auch wenn auf diesem Weg viele chinesische Erfindungen wie Papier, Schiesspulver oder Druck mit beweglichen Lettern zunächst die Araber und dann die Europäer erreichten, war die Seidenstrasse keine Einbahnstrasse. Ideen und Güter bewegten sich auch ostwärts. Die Kartoffel beispielsweise, Tisch und Stuhl sowie der Buddhismus. Dass der Buddhismus zunächst in China, danach in Korea und Japan heimisch wurde, ist nicht selbstverständlich. Die Staats- und Morallehre des Konfuzius oder der Daoismus nämlich schafften es umgekehrt nie.
Im übrigen: Marco Polo brachte im 13. Jahrhundert nicht Spaghetti und Ravioli nach Europa, wie chinesische Reiseführer europäischen Touristen immer gerne weis machen wollen. Denn Ravioli und Nudeln gab es in Europa bereits zuvor, kein Wunder, denn in allen agrarischen Gesellschaften, in denen Getreide angebaut wurde, entstanden ganz eigenständig vielerlei Formen von Nudeln, Maultaschen, Brot.
Die Chinesen sicherten die Seidenstrasse, die damals wichtigste Handelsroute der Welt, schon unter der Han-Dynastie vor über zweitausend Jahren bis nach Zentralasien. Der grösste Dichter Chinas, Li Bo, wurde in der ersten Hälfte des 8. Jahrhunderts während der Tang-Dynastie in Bishkek, der heutigen Hauptstadt von Kirgisien geboren. So weit reichte der chinesische Einfluss. Die Chinesen waren also schon seit langem in diesem Gebiet eine bestimmende Macht, nicht erst seit dem 19./20. Jahrhundert. Am sichersten war die lange Handelsroute unter den Mongolen während der Yuan-Dynastie im 13. und 14. Jahrhundert, denn die Khans beherrschten damals als erstes und bislang einziges Weltreich - ja, ja, weit grösser und mächtiger als heute die Amerikaner - den ganzen eurasischen Kontinent. Als beispielsweise die Amerikaner die mongolische Armee-Einheit für ihren Einsatz in Bagdad vorbereiten wollten, sagte der mongolische Kommandant cool: "Liebe amerikanische Freunde, wir wissen, worauf wir uns einlassen, denn wir waren schon vor 700 Jahren in Bagdad".
Heute spielt die Seidenstrasse als Handelsroute keine Rolle mehr. Bahn, Flugzeug und Pipelines haben diese Funktion übernommen. Der chinesische Teil Zentralasiens aber, die Autonome Region Xinjiang, hat sich wie ganz China in den letzten 29 Reformjahren bis zur Unkenntlichkeit verändert. Dort, wo es von der Provinz-Hauptstadt Urumqi - chinesisch: Ulumuqi - nach Kashgar - chinesisch: Kashi - nur einen Dreckweg gab, reist man heute mit einer komfortabeln Eisenbahn oder im Auto auf zum Teil sechsspurige Autobahnen. Durch die Todes-Wüste Taklamakan führt eine asphaltierte Strasse, eine zweite ist im Bau. Erdöl und Erdgas haben das alles möglich gemacht. Urumqi, vor 25 Jahren noch eine Stadt mit allenfalls zweistöckigen Häusern, verfügt heute über einer fast schon amerikanische Skyline.
Die Autonome Region Xinjiang, ein Sechstel der Bodenfläche Chinas, zählt nur 22 Millionen Einwohner. Die Hälfte davon machen mittlerweile die Han-Chinesen aus. Die muslimischen, turkisch-sprachigen Uighuren geraten langsam in die Minderheit. Es gibt zwar eine winzig kleine Gruppe, die für Unabhängigkeit kämpft. Doch diese ost-turkmenische Befreiungsbewegung hat kaum Rückhalt in der Bevölkerung. Dennoch: Seit 1990 sind rund hundert Menschen umgekommen. Für die Champions der Menschenrechte, die USA, waren das "Freiheitskämpfer". Doch seit 9/11 hat sich alles geändert. Um China im Kampf gegen den Terrorismus zu gewinnen, wurden daraus auch für die Amis plötzlich "Terroristen". Nachweislich wurden einige von den Talibans, einst von den Amis im Kampf gegen die Sowjets unterstützt, in Afghanistan ausgebildet. Freiheit und Terror - nun ja ...
Bei frischem Fladenbrot, Lammspiesschen und Grüntee lässt sich in der Nähe des Grossen Bazars von Kashgar vortrefflich diskutieren. Die Uighuren sind gastfreundlich, offen zu Fremden und machen keinen Hehl daraus, dass sie die Han - also die Chinesen - nicht besonders lieben. "Aber", sagt Freund Mohammad lachend, "wir sind und bleiben auch im Zeitalter der sozialistischen Marktwirtschaft chinesischer Prägung die besseren Händler. Bei weitem!"
Was die Seidenstrasse uns lehren kann: Schon vor zweitausend Jahren war der Austausch von Gütern und Ideen kein Nullsummen-Spiel. Das sollte den fundamentalistischen Globalisierungs-Gegnern zu denken geben.
29. Oktober 2007