... Dien Bien Phu: Der General
Laos und Nordvietnam zu bereisen war lange Zeit nicht einfach. Nicht so sehr wegen der noch heute ziemlich einfachen Infrastruktur, sprich schlechten Strassen, sondern wegen bürokratischen Hindernissen. Ein vietnamesisches Visum verlangte einst zwingend als Einreise-Ort entweder die Hauptstadt Hanoi oder die südliche Wirtschafts-Metropole Ho-Chi-Minh-Stadt (früher Saigon). Damit wurden Landreisen von und nach Laos-Vietnam, von wenigen Ausnahmen abgesehen, verunmöglicht. Das hat sich geändert. Dennoch, die meisten Touristen bewegen sich noch immer entlang der üblichen Routen, etwa Hanoi-Sapa-Halong-Hue-Hoi An-Saigon oder in Laos Vientiane-Vang Viang-Louang Prabang. De Luxe und mittlerweile mit Sternen-Komfort.
Lohnender, aber anstrengender sind Überland-Reisen durch gebirgiges Gelände. Über zweitausend Kilometer von der vietnamesischen Küste nach der laotischen Provinzstadt Sam Neua, danach über die Ebene der Tonkrüge in die alte Hauptstadt Louang Prabang, und von dort wieder nach Vietnam. Was für ein Erlebnis. Es sind Gebiete, wo während des Vietnamkrieges, den Laoten und Vietnamesen den "Amerikanischen Krieg" nennen, mehr Bomben abgeworfen wurden als im Zweiten Weltkrieg über ganz Europa.
Es ist eine Region, die in langen Jahrzehnten des letzten Jahrhunderts für die Bevölkerung Krieg, Hunger und Unterdrückung brachten. Zuerst die japanische Besetzung während des Zweiten Weltkrieges, danach die Rückkehr der französischen Kolonialisten und ein blutiger Unabhängigkeitskrieg, der auf französischer Seite mehrere Zehntausend Todesopfer forderte und Hunderttausenden von Vietnamesen das Leben kostete. Später der amerikanische Krieg bis 1973, bei dem 58'000 junge Amerikaner fielen und drei Millionen Vietnamesen und Vietnamesinnen zu Tode kamen.
Die Befreiung 1975 mit der sowjetischen Planwirtschaft brachte ein Jahrzehnt des Mangels und des Hungers. Schliesslich 1979 ein Angriff des ehemaligen Verbündeten China, nachdem die Vietnamesen Kambodscha eroberten und dem utopisch-tödlichen Regime Pol Pots ein Ende bereiteten. Die Chinesen, alliiert mit den Roten Khmers, wollten - wie der grosse Reformer und Revolutionär Deng Xiaoping sich ausdrückte - den Vietnamesen "eine Lektion erteilen". 40'000 chinesische und eine unbekannte Zahl vietnamesische Soldaten fielen.
Von diesen Schrecken ist seit fast drei Jahrzehnten – seit Reformbeginn Mitte der achtziger Jahre – und besonders heute wenig mehr zu spüren. Vietnam hat sich wirtschaftlich zu einem der erfolgreichsten Länder Asiens gemausert. Auch Laos hat sich, wenn auch mit umfangreicher Hilfe aus dem Ausland, in den letzten Jahren einigermassen von den Kriegsschrecken erholt. Offiziell heisst die Linie: Was vergangen ist, ist vergangen, wir müssen in die Zukunft blicken. Bei näherem und längerem Kontakt mit Laoten und Vietnamesen freilich ist nicht alles so einfach, wie es die Propaganda wahrhaben will. Anders ausgedrückt: Die Vergangenheit ist noch nicht verarbeitet. Die Generation der über 40-jährigen Vietnamesen und Vietnamesinnen aus der Hauptstadt Hanoi hat beispielshalber das Weihnachts-Bombardement von 1972 noch nicht vergessen, als die Amerikaner Vietnam nochmals zu entscheidenden Konzessionen am Pariser Verhandlungstisch bombten. Im Januar 1973 kam die Einigung. Ende 1973 verliess der letzte Amerikaner Vietnam, und am 30. April 1975 war Vietnam wiedervereinigt.
Das alles wird gegenwärtig, wenn von Nord-Laos die Grenze zu Vietnam überschritten wird. Noch wenige Kilometer bis zum legendären Dien Bien Phu (Bild, ein französischer Kommandoposten, heute ein viel besuchtes Freiluftmuseum). Dort schlug und verlor 1954 die französische Armee, zum grössten Teil finanziert von den Amerikanern, ihre letzte Kolonial-Schlacht. Die hochmütige französische Generalität wollte den Rebellen ebenfalls "eine Lektion erteilen". Der hochgebildete und weit gereiste Revolutionsführer Ho Chi Minh konnte sich auf seinen Kampfgefährten General Giap verlassen. Ohne dass es die Franzosen merkten, liess er Teilstück für Teilstück schwerer Artillerie auf Karren und Fahrrädern durch die gebirgigen Wälder herantransportieren und auf den Bergen rund um Dien Bien Phu montieren. Der Angriff begann am 13. März und dauerte 56 Tage. Zehntausend Franzosen , darunter einige Dutzend Schweizer Fremdenlegionäre, und Zwanzigtausend Vietnamesen verloren ihr Leben.
Dien Bien Phu verfolgte ich damals am französischen Radio. Tag für Tag. Es war – im Rückblick – die Zeit meiner Politisierung und wohl auch der Grund meiner Berufswahl. Über vierzig Jahre später holte mich die Geschichte ein. In Hanoi, wo ich arbeitete, begegnet mir Ly Van Sau, gebildet, in mehreren Sprachen und deren Literatur zu Hause. Er war der Sprecher des Vietcong während der Pariser Friedensgespräche und später in leitender Stellung beim vietnamesischen Rundfunk und der offiziellen vietnamesischen Nachrichtenagentur tätig. Was mich als Radio-Journalist an ihm am meisten beeindruckte, war die Geschichte, wie er Radio-Journalist geworden ist. Während des Unabhängigkeitkrieges gegen die Franzosen befehligte er in Südvietnam, seiner Heimat, eine kleine, hochmobile Radio-Einheit. Vom Rücken eines Elefanten aus wurde gesendet, dann schnell zusammengepackt und ab in den Dschungel. Das französische Bombardement konnte die mobilen Radio-Dschungel-Journalisten dann aus sicherer Entfernung verfolgen.
General Giap besiegte nach den Japanern und Franzosen auch die Amerikaner. Für mich eine historische, legendäre Figur. Und tatsächlich, eines Abends bei Ly Van Sau in Hanoi - der General. Alt, aber ungebeugt. Was und wie spricht man mit einer weltberühmten Legende? Der General hat es mir leicht gemacht. Ganz einfach ein interessantes Gespräch über Dien Bien Phu und darüber hinaus. Das war vor etwas mehr als zehn Jahren. General Giap lebt noch heute. 99 Jahre alt.
28. Dezember 2009
"Ausserordentliche Geschichtslektion"
Danke, Peter Achten, für die ausserordentliche Geschichtslektion. Genau darauf sind wir im Westen so dringend angewiesen. Woher sollten wir so zentrale Details sonst erfahren können?
Haben Sie noch ein paar derartige Müsterchen, die Ihr Blick auf die Welt verändert haben im journalistisch-persönlichen Köcher, die ins Zentrale treffen? Die Informationen in unseren Medien beschäftigen sich seitenweise mit Superstars aus Sport und Unterhaltungsfilmen etc. Wer berichtet eigentlich von wirklichen Grössen?
Viktor Krummenacher, Bottmingen