... Chaoyang: Lädelistärbe
Dank jahrelangem Velofahren kenne ich Chaoyang wie meine Hosentasche. Chaoyang ist ein Stadtkreis in der chinesischen Hauptstadt mit einem Mehrfachen an Einwohnern der Weltstadt Zürich. In Chaoyang hat auch die Crème de la Crème der globalisierten Wirtschaft im "Zentralen Business Distrikt" ein Standbein. Als Sitz von Regierung und der allmächtigen Partei sind auch die Medien in der Hauptstadt domiziliert und wo besser als eben im Chaoyang-Quartier.
Das Zentrale Fernsehen CCTV mit 14 Kanälen hat sein Zentrum in einer vom holländischen Architekten Rem Koolhaas entworfenen pittoresken, 250-Meter hohen Architektur-Skulptur. Nicht weit davon entfernt das Pekinger Fernsehen und die lokale Radio-Station. Beide lokale Institutionen haben je mehr Mitarbeiter als die SRG insgesamt. Kein Wunder, denn der Markt ist mit über 18 Millionen Einwohnern enorm gross.
Auch CCTV, Peking TV und Peking Radio bemühen sich um einen Service public. Das ist natürlich grundlegend anders als in der Schweiz definiert. Denn dort, wo die Kommunistische Partei allmächtig ist, hat die Partei das Informationsmonopol. In China also gibt es ein Staatsfernsehen und ein Staatsradio. In der Schweiz gibt es das – es muss wieder einmal notiert werden – nicht, obwohl Politiker noch immer so schwafeln, und, noch viel schlimmer, Journalistinnen und Journalisten selbst in Qualitätsblättern wider besseres Wissen und immer wieder vom Schweizer Staatsfernsehen schreiben.
In der chinesischen Kulturhauptstadt ist der Chaoyang-Distrikt aber auch Zentrum der bildenden Künste, und Wohnort vieler Schriftsteller, Maler, Bildhauer, Cineasten. Ai Weiwei beispielsweise gehört dazu oder Zhu Wei. Chaoyang hat sich wie Peking und China in den letzten zehn Jahren in einem atemberaubenden Tempo verändert. Vieles wurde und wird abgerissen und macht Neuem Platz. Das hat gute Seiten, denn Pekingerinnen und Pekingern geht es so gut wie noch nie in der langen Geschichte der Stadt.
Vieles geht aber auch verloren. Supermarkts verdrängen langsam die Lädeli. Noch gibt es sie, aber mit jedem Monat verschwindet wieder eines da und ein anderes dort. Weil meist mit dem Velo unterwegs, registriert man jede Veränderung. Mein Velomechaniker, der mein Radl seit über zehn Jahren flickt, ist plötzlich verschwunden. Eine Strassenkorrektion hat seinen Standort unmöglich gemacht. Wo er jetzt repariert, weiss ich nicht. Ein Verlust, denn hin und wieder haben wir auch ein Bier zusammen getrunken, über Peking, Gott, die Welt und die Partei diskutiert und gelacht.
Auch meine Schuhmacherin musste ihren Arbeitsplatz am Strassenrand eines Hutongs, einer alten Pekinger Gasse, räumen. Wo einst alte Hofhäuser standen, ragen nun Wolkenkratzer in den verschmutzten Himmel. Nur meine Coiffeuse, Shen Moli aus der Provinz Shanxi, habe ich wieder gefunden. Seit zehn Jahren arbeitet sie in Peking. Auf dem Fahrrad hat sie alle Utensilien für ihren Beruf verstaut: Sessel, Spiegel, Thermosflaschen mit heissem und kaltem Wasser und eine Auto-Batterie für die Tondeuse. An einem Stassenrand bedient sie eine treue Stammkundschaft, darunter mich. Vor zwei Jahren hat sie endlich ein Hukou (eine Aufenthaltsbewilligung) erkämpft, und darauf ist sie mächtig stolz. Ihr Sohn studiert mittlerweile an der Uni. Und plötzlich war sie weg. Dank der vielen Stammkunden fand ich sie wieder. Vier Strassen östlich und drei Staaten nördlich.
Das Lädelistärbe ist, wie anderswo, nicht aufzuhalten. Dennoch, zur Lebens-Qualität gehört Frau Shen, der Velomechaniker, die Schuhmacherin und das Lädeli um die Ecke.
16. August 2010