Sexualkunde-Unterricht: Keine Dispens in Basel
Die Teilnahme am Sexualkunde-Unterricht im Kanton Basel-Stadt ist weiterhin obligatorisch: Das Appellationsgericht lehnte heute Mittwochmittag Rekurse von Eltern ab, die eine Dispens ihrer Kinder verlangt hatten.
Basel, 14. August 2013
Ein Ehepaar, Eltern eines heute achtjährigen Knaben, und eine alleinerziehende Mutter einer heute neunjährigen Tochter, standen heute vor dem Basler Appellationsgericht – stellvertretend für insgesamt 22 Eltern, die ihre Kindergarten- und Primarschüler vom Sexualkunde-Unterricht dispensieren lassen wollen. Die Eltern forderten von den Schulleitungen auch, dass der vor zweieinhalb Jahren erlassene "Leitfaden Lernziel sexuelle Gesundheit" des Basler Erziehungsdepartements und die davon abgeleitete "Handreichung" für Kindergarten und Primarschule nicht angewendet werden.
Sowohl Schulleitung wie Regierung hatten die Gesuche und Rekurse der Eltern abgelehnt, so dass nun in dritter Instanz das Appellationsgericht unter dem Vorsitz von Stephan Wullschleger über die Rechtmässigkeit des Sexualkunde-Unterrichts zu entscheiden hatte.
"Keine christlichen Fundamentalisten"
Die Eltern, die sich gegen die schulische Sexualkunde im Kleinkindesalter wehrten, seien "in keiner Weise christliche Fundamentalisten und auch keine Hinterbänkler", stellte ihr Anwalt Pascal Grolimund zu Beginn der Verhandlung fest. Sie hätten nichts gegen Gewaltprävention und Gesundheitsschutz auch schon im Kindergarten, aber sie seien "gegen eine umfassende obligatorische Sexualerziehung" durch Bildungspersonen. Ein solches Konzept mit "finaler Zielsetzung" sei "überschiessend, unrechtmässig, verfassungswidrig und eine Zwängerei", weil es die elterlichen Grundrechte zentral tangiere.
Der rekurrierende Vater pochte darauf, dass die sittliche Erziehung ein Elternrecht sei: "Erziehung ist Milizsache. Ich will nichts Anderes als diese Verantwortung wahrnehmen." Seine Ehefrau ergänzte, für Kinder im Alter ab fünf Jahren sei die Zeit für schulische Aufklärungspflicht "nicht reif". Der Rechtsvertreter kritisierte, dass Basel-Stadt schon in Kindergarten und Primarschule anwende, was der "Lehrplan 21" für Elf- und Zwölfjährige als Lernziele festschreibe. Eine Risiko- und Nutzenanalyse sei nicht erstellt worden. Für zielgerichtete Sexualpädagogik in diesen untersten Schulstufen bestehe weder eine rechtliche Grundlage noch ein Bedarf: Kinder wollten keinen systematischen Unterricht zu Fragen aus dem sexuellen Bereich, sondern nur gerade ihr jeweils "konkretes Informations-Bedürfnis stillen".
Simone Peter, die Rechtsvertreterin der Basler Regierung, räumte mit der falschen Vorstellung auf, dass Plüsch-Vaginas und Holzpenisse schon in Kindergarten und Primar zur Aufklärung eingesetzt würden. Vielmehr hätten Regierung und Erziehungsrat als Fachbehörde mit der Sexualkunde ihre "staatliche Schutzpflicht erfüllt". Es gehöre auch zur Aufgabe der Schule, Kinder vor Übergriffen und sexueller Ausbeutung und Gewalt präventiv zu schützen. Darunter falle das Recht, schon im Kindergarten zu lernen, Nein zu sagen. Da vom Kind keine aktive Teilnahme erwartet werde, sei ihm zuzumuten, dass es zuhört.
Bisher keine Sexualkunde
Auf die Frage eines Richters, worin denn die Gefährdung durch den Sexualunterricht liege, erfolgte seitens der Eltern indes keine konkrete Antwort. In der Befragung zeigte sich auch, dass die Kinder der Rekurrierenden bisher noch nie mit Sexualkunde konfrontiert wurden, was auf eine pragmatische und bedarfsgerechte Anwendung hindeutet, wie Pierre Felder, Leiter Volksschulen im Erziehungsdepartement, als Auskunftsperson ausführte.
Dies sei in der Tat ein "gewisser Widerspruch", führte der Gerichtspräsident – dessen Töchter im Kindergarten laut seinen Angaben ebenfalls nie mit Sexualkunde konfrontiert waren – in seiner Urteilsbegründung aus. Die Vermittlung von Sexualwissen in der Praxis sei "auch heute noch nicht ganz geklärt": Es handle sich um "reaktiven Unterricht, obschon er obligatorisch ist". Gerade deshalb gehe das Gericht aber davon aus, dass Lehrpersonen mit professioneller Sorgfalt und Rücksichtnahme bei Bedarf Fragen wie Homo- und Bisexualität, Zeugung, Verhütung und die Wirkung von Berührung an intimen Stellen behandeln: "Es wird vom Kind keine aktive Teilnahme erwartet." Als "problematisch" stufte er hingegen "angeleitete gegenseitige Berührungen" ein, die planmässig vorgesehen waren, aber inzwischen aus dem Unterrichtsangebot wieder entfernt wurden.
Kindliche Grundkenntnis der Körperlichkeit nötig
Für die Lehrperson schwierig, so der Gerichtspräsident weiter, sei die Abgrenzung von Sozial- und Sexualkunde. Sicherlich aber könne eine Dispens "problematisch" sein, weil für das betroffene Kind das Interesse am behandelten Thema während seiner Abwesenheit erst recht geweckt werden könnte.
In der Tat gebe es Kinder, die ungern über sexuelle Empfindungen reden. Aber deswegen sei der Schutzbereich der persönlichen Freiheit nicht tangiert. Viel eher bestehe ein "klares öffentliches Schutzinteresse" daran, dass auch schon Kleinkinder lernen, Nein zu sagen. Gerade der Schutz des Kindes in seiner sexuellen Integrität erfordere von ihm "eine gewisse Grundkenntnis seiner Körperlichkeit".
Der vorsitzende Richter unterliess es nicht, es als "sehr stossend" zu bezeichnen, dass der im Unterricht zur Verfügung stehende Informationskoffer von Medien und Politikern als "Sex-Box" abgestempelt worden sei. Dies sei er eben nicht, weil er nicht von der erwachsenen Definition von Sex, sondern von den kindlichen Empfindungen ausgehe.
Ein Fall für das Bundesgericht?
Ob sich die Rekurrenten mit dem Entscheid zufrieden geben, ist laut Auskunft ihres Anwalts noch offen. Der bisherige Verlauf der rechtlichen Auseinandersetzung indes könnte darauf schliessen lassen, dass sich das Bundesgericht nochmals mit dem Basler Sexualkunde-Unterricht noch wird befassen müssen. Mit ihrem Antrag auf eine vorsorgliche Massnahme, die einer aufschiebenden Wirkung des Inkrafttretens der Sexualkunde gleichkommt, waren die Rekurrenten in Lausanne schon gescheitert.