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Männliche "Porno-Camilla": Anklage fordert 6 1/4 Jahre
Im Prozess um den pädophilen Baselbieter ex-Sekundarlehrer, der sich als junge Frau ausgab und Hunderte minderjährige Buben über Internet-Plattformen und Chats sexuell oder pornografisch missbrauchte, verlangt die Staatsanwaltschaft eine Freiheitsstrafe von 6 1/4 Jahren.
Basel, 9. April 2019
In Fleisch und Blut stand er heute Dienstagmorgen vor dem Basler Strafgericht: Er, der sich im Internet eine weibliche Identität zugelegt hatte und während zehn Jahren (2003 bis 2013) mindestens 246 pubertierende Buben zu Pornografie und sexuellen Handlungen verführte. Er, der heute 37-jährige Angeklagte, der als Sekundarlehrer in Allschwil, Oberwil und Reinach und schliesslich an der Musikschule Rheinfelden tätig war. Heute ist er arbeitslos.
Als Basler Ermittler – von britischen Kollegen in Rahmen einer internationalen Fahndung alarmiert – seine Wohnung durchsuchten, stiessen sie auf 47'670 kinderpornografische Bilder und 4'096 Videos, 92 tierpornografische Bilder und zwei Videos sowie fünf gewaltpornografische Fotos.
"Bisexuell", "nie eine feste Beziehung"
Der Täter bezeichnete sich in der Befragung zur Person, in der er seine Ausführungen meist knapp hielt ("Ich weiss es nicht mehr") und kaum schlüssige Hinweise über seine Strategie preisgab, als bisexuelles Wesen, das in "zwei Welten" gelebt habe. In seiner realen Welt habe er nie eine feste Beziehung gehabt, in der virtuellen aber lebte er seine pädophile sexuelle Lust an Buben aus – darunter auch an mehreren seiner eigenen Schüler.
Er nahm mit ihnen über die einschlägigen Plattformen wie MSN, festzeit.ch, meinbild.ch, netlog oder Facebook unter Fake-Mädchennamen wie "Nicole", "Camilla" oder "Luci" Kontakt auf und animierte sie unter präzisen Kamera- und Lichtanweisungen, ihm Nackt-Fotos und Live-Videos mit Masturbations-Szenen zu schicken. Als Gegenleistung bot er weibliche Sex-Aufnahmen an, die er aber oft an weitere Vorleistungen knüpfte. Tatsächlich mailte er auch mal Fotos – von jungen Frauen, die er im Internet abkupferte. (Details zu Vorgehen und Anklage hier.)
Als Lehrer warnte er vor Delikten, die er beging
Die beklemmendsten Situationen ergaben sich, wenn die Buben keine weitere Videos und Fotos mehr schickten oder Verdacht schöpften: Ihnen drohte er damit, bisher erhaltenes "Material" (so bezeichnete er die Filmchen) im Internet zu veröffentlichen. Einzelne Opfer berichteten, diese Drohungen hätten bei ihnen "Panik-Attacken" ausgelöst.
Dem aus dem virtuellen Versteck operierenden Angeklagten dagegen hatte das Film-"Material" nach seinen Worten Befriedigung, ja Gefühle der "Faszination" ausgelöst. Er sei "damals pornosüchtig" gewesen, sagte der Täter, der in einer psychotherapeutischen Behandlung steht und in der Verhandlung "pädophile Neigungen" abstritt. Heute habe er "kein Interesse mehr an Buben im Schutzalter".
Erschreckend: Als Baselbieter Lehrer thematisierte er vor seinen Schülern auch "Nutzen und Gefahren des Internets" und wies sie dabei "auf alles Mögliche hin". Unter anderem warnte er sie auch "vor dem, was ich selbst machte". In Fall eines missbrauchten Schülers, welcher der Sohn eines ehemaligen Freundes ist, rang er sich zur Aussage durch, es tue ihm "wahnsinnig leid". Der heute 22-jährige Mann wurde als 14-Jähriger Bub in einem Chat vom Angeklagten alias "Nicole" verleitet, vor der Webcam sexuelle Handlungen vorzunehmen und Porno-Fotos zu machen.
Anklage-Rückweisung abgelehnt
Vor der Fünferkammer des Strafgerichts unter dem Vorsitz von Roland Strauss beantragte Verteidiger Silvio Bürgi zur Verhandlungsbeginn die Sistierung und Rückweisung des Strafverfahrens, weil die Anklage die "Geschäftsverläufe unklar" dokumentiert habe. Der Mandat sei "in seiner Lebensführung blockiert", für ihr stehe "viel auf dem Spiel". Der Staatsanwaltschaft warf er vor, sie wolle an diesem Fall "ein Exempel statuieren". Das Gericht wies den Antrag nach kurzer Beratung ab: Ddie Aktenführung sei "nicht konfus".
Die Anklagepunkte: Nötigung, sexuelle Handlungen mit Kindern und Pornografie.
Staatanwältin fordert 6 1/4 Jahre
Staatsanwältin Eva Eichenberger forderte in in ihrem Plädoyer eine Freiheitsstrafe von 6 1/4 Jahren und ein Tätigkeitsverbot von zehn Jahren. Wer, wie der Angeschuldigte, "während zehn Jahren tagtäglich seinem 'Hobby' frönt, muss sich damit abfinden, dass man seine These der 'zwei Welten' als Schutzbehauptung entlarvt". Was in der Anklageschrift dokumentiert ist, sei nur "das absolute Minimum" dessen, was sich der Schulmeister im Internet geleistet habe. Seine jüngsten Opfer seien "gerade mal neun Jahre alt" gewesen.
Der Beklagte hat laut Staatsanwältin "rücksichtslos, hinterhältig und perfide" gehandelt: "Er kam in den Chats jeweils sofort zur Sache". Wenn Buben Widerstand gaben, habe er Druck aufgesetzt: "Er war stets der Regisseur", wenn von seinen Opfern das Einführen von Gegenständen in den Anus oder Auflecken von Sperma befohlen habe: "Sie waren lebendige Mittel zum sexuellen Zweck."
"Es bricht einem das Herz"
Die Anklägerin wörtlich: "Es bricht einem das Herz, wie Junge darum gebettelt haben, sie (gemeint ist die vermeintliche Chat-Partnerin) möge ihre Drohung nicht wahr machen, die übermittelten Bilder zu veröffentlichen." Wäre der Täter nicht der London Metropolitan Police ins Netz gegangen, wäre er heute noch aktiv. Opfer müssten ausserdem damit rechnen, dass ihre über Tausch-Plattformen verbreiteten Bilder weiterhin ihm Internet kursieren, sagte die Staatsanwältin weiter.
Sie setze ein "grosses Fragezeichen" hinter die Behauptung des Täters, dass er sich nicht mehr zur Pädophilie hingezogen fühle. "Wer über eine so lange Zeit systematisch nach demselben Muster vorgeht, weiss auch, was seine Motive waren." Dann ihn nicht ausschliesslich Knaben interessiert hätten, wie er behauptete, treffe nicht zu: "Die Chats, Bilder und Filme sprechen eine andere Sprache." Und wenn er diese Neigungen früher gehabt habe, "hat er sie heute noch".
Sie habe in ihren Ermittlungen "nichts gefunden", das den Angeschuldigten entlaste, sagte die Staatsanwältin weiter. Dass er über die lange Zeit von zehn Jahren "fast 250 Opfer generiert" habe, sei strafverschärfend.
Verteidiger will nur 15 Monate bedingt
Verteidiger Silvio Bürgi ging in seinem Antrag von 15 Monaten bedingt auf zwei Jahre weit unter das Strafmass der Anklägerin. Bürgi kritisierte verschiedene verfahrensrechtliche Aspekte. So hätte die Zeit der Strafuntersuchung durch ein abgekürztes Verfahren reduziert werden sollen. Durch die umfangreichen Opfer-Befragungen aber habe die Staatsanwaltschaft das Beschleunigungsgebot verletzt ("Behördenversagen").
Es sei "ausser Frage, dass mein Mandat in der Schuld steht", räumte der Verteidiger ein. Aber er sei reuig und könne die Verfehlungen nicht rückgängig machen. Durch Therapien habe er "hartnäckig an sich gearbeitet". Er soll zwar "angemessen bestraft" werden, aber das Gericht müsse dem "medialen Druck" standhalten und "professionelle Nüchternheit bewahren". Der Angeschuldigte habe "längst erkannt, dass er sich jahrelang auf dem Holzweg befand".
Kein einziger Fall von Körperkontakt
Bürgi wies als Entlastungs-Argument auch darauf hin, dass sein Klient "in keinem einzigen Fall einen Körperkontakt" mit den kontaktierten Buben hatte. Einige der betroffenen Opfer und heutigen Männer seien sogar "belustigt" darüber gewesen, dass ihnen ein angeblich älteres Mädchen Avancen gemacht habe. Es sei für diese Männer, wie er habe feststellen können, "keine Welt zusammengebrochen". Kein einziges Opfer habe ausgesagt, die Kontakte mit dem Angeschuldigten hätten Auswirkungen auf ihre sexuelle Entwicklung gehabt.
Das Tatverschulden im Einzelfall sei als "leicht" einzustufen. Der nicht vorbestrafte Beschuldigte sei heute nach Absolvierung von Hunderten Therapiestunden "eine andere Person". Er sei kooperativ gewesen und habe Reue gezeigt, was strafmildernd beurteilt werden müsse.
Urteil am Donnerstagmorgen
Der Staatsanwaltschaft warf er "Stimmungsmache" vor. Sie schiesse mit ihrem Strafantrag "weit weit über das Ziel hinaus". Seinem Klienten sei "klar, dass es für ihn keine berufliche Zukunft mehr mit Kindern gibt". Deshalb sei von einem Berufsverbot abzusehen.
In seinem letzten Wort sagte der Angeklagte, er bereue, was vorgefallen sei. Es tue ihm "enorm leid". Das Urteil wird am Donnerstagmorgen verkündet.
Kommentar: "Medien als Instrumente der Strafverteidiger"
Weiterführende Links:
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